Eine Besprechung von
Stefan von Kempis „Gibt es alles oder nichts“ – der Titel der deutschen Ausgabe
dieses Buches ist irreführend, denn die Recherche des US-Autors Jim Holt gilt in Wirklichkeit
der berühmten Warum-Frage von Leibnitz: „Warum gibt es etwas und nicht einfach
nur nichts?“ Dass es nämlich „etwas“ gibt und nicht nur „nichts“, weist der
Autor ja schon auf der ersten Seite elegant nach. Ein falscher Titel also.
Aber
das ist nur ein Fleck auf einem ansonsten faszinierenden Mosaik. Holt fragt namhafte
Theologen, Quantenphysiker, Philosophen, Mathematiker oder Schriftsteller nach ihrer
Erklärung dafür, warum das Universum entstanden ist. Und der Leser kommt allmählich
ins Grübeln, welche abenteuerlichen Modelle sich Denker von heute einfallen lassen,
während sie die Hypothese Schöpfergott von vornherein ausschließen. „Wenn Sie es richtig
überlegen“, so urteilt der (mittlerweile verstorbene) Großschriftsteller John Updike
ganz treffend beim Plausch mit Holt, „akzeptieren wir Rationalisten Aussagen über
das frühe Universum, die haarsträubender sind als irgendeines der biblischen Wunder.“
Dabei
könnte doch – das hier zu erfahren, ist schon verblüffend – ausgerechnet die Annahme,
dass es Gott gibt, noch die einfachste Erklärung für die Existenz unseres Universums
bieten; der Oxforder Wissenschaftler Swinburne bekennt sich daher eloquent dazu. Fehlt
hingegen der Baustein Gott im Modell, dann wird es richtig kompliziert, manchmal unverständlich
– und ebenso unbeweisbar. Swinburne wundert sich, wie heutige Physiker die Vorstellung
von einem allwissenden oder allmächtigen Gott bestreiten, auf der anderen Seite aber
„sehr winzigen Teilchen unendliche Macht zugeschrieben haben“: „Man hält es also in
den Naturwissenschaften für durchaus angemessen, Objekten sehr einfacher Art All-Eigenschaften
zuzuschreiben.“
Der Leser lernt, dass der mittelalterliche „Gottesbeweis“ des
Anselm von Canterbury bis heute vielen Forschern zu denken gibt. Dass die Bestätigung,
das Universum sei durch einen Urknall entstanden, den Verfechtern der Gotteshypothese
in die Hände spielt (das ist das glatte Gegenteil von dem, was man oft hört und liest).
Er lernt aber auch, dass erwachsene Wissenschaftler heute tatsächlich glauben, dass
es unendlich viele Universen gibt (oder vielmehr: geben sollte), in denen sozusagen
Kopien von uns Menschen, von Ihnen und von mir, herumlaufen. Oder dass viele Forscher
felsenfest überzeugt sind, dass physikalische Gesetze „über der Welt schweben wie
der Geist Gottes und den Dingen befehlen, zu existieren“: Am Anfang war die Weltformel.
Der
Leser lernt viel – auf vergnügliche Weise: Denken als Abenteuer, als Reise. Natürlich
sind es vor allem Koryphäen der angelsächsischen Welt, die durch dieses Buch paradieren;
schade eigentlich, dass der hartnäckige New Yorker Frager nicht auch mal beim emeritierten
Papst in den Vatikanischen Gärten vorbeigekommen ist.
Am Schluss der Recherche
steht die Erkenntnis des Autors, dass es – vielleicht, vielleicht – etwas mit den
Prinzipien ‚Fülle’ oder aber ‚Einfachheit’ zu tun hat, dass es unser Universum überhaupt
gibt. Und Holt berichtet uns vom Sterben seiner Mutter, einer gläubigen Katholikin,
in einem Krankenhaus von Virginia. „Als ich direkt über ihr stand, noch immer ihre
Hand haltend, öffnete meine Mutter die Augen ganz weit, wie in Angst... Vielleicht
hatte noch ein paar Sekunden lang im Kortex meiner Mutter ein Rest Bewusstsein geflackert,
bevor es für immer erlosch. Ich hatte soeben den infinitesimalen Übergang vom Sein
zum Nichts erlebt.“
Seine Suche nach dem Sinn hinter allem hat dem Autor,
das wird hier deutlich, nichts Greifbares „gebracht“, an das er sich in einem so existenziellen
Moment halten könnte.