2014-09-03 16:42:45

Islamfachmann Samir: Muslimische Mehrheit will keinen Islamischen Staat


RealAudioMP3 Die Mehrheit der Muslime in der Welt will keinen Islamischen Staat, wie ihn die Terroristen im Irak propagieren - das unterstreicht der Islamexperte Pater Samir Khalil Samir im Interview mit Radio Vatikan. Durch Propagandavideos und Augenzeugenberichte von Opfern im Irak und Syrien waren in den vergangenen Wochen immer mehr Gräueltaten der IS-Kämpfer bekannt geworden: Öffentliche Hinrichtungen und Massenmorde, Vergewaltigungen und die Versklavung von Frauen, unsägliche Grausamkeiten selbst gegenüber Kindern. Der Großteil der muslimischen Welt sehe diese Taten mit Abscheu, berichtet der Ägypter Samir, der viel im Nahen Osten herumkommt. Die Brutalität und das Blutvergießen des IS seien den Menschen „zu viel“.

Immer mehr Vertreter des Islam weltweit haben sich inzwischen vom Terror des IS abgegrenzt. Mit dem Islam habe die Blutpropaganda der Islamisten im Irak und in Syrien nichts zu tun, sagten Islamvertreter muslimisch dominierter Staaten wie Malaysia, Indonesien, Saudi-Arabien und Ägypten. „Hier und da“ habe es Reaktionen gegeben, kommentiert Samir diese Einzelstimmen. Von einer gemeinsamen Verurteilung der Invasion im Nahen Osten, etwa durch die Arabische Liga, habe er aber bislang nichts gesehen: „Wenn es eine gemeinsame Reaktion gegeben habe, hat die keinen großen Einfluss gehabt.“


Die Mehrheit sagt: „Wir wollen kein Kalifat“

Auch in öffentliche Massenproteste habe sich die ablehnende Haltung nicht übersetzt, bedauert der Islamwissenschaftler, der an diesem Mittwochmorgen noch in Beirut war: „Die Reaktionen waren intellektuelle; Demonstrationen auf der Straße haben wir keine gesehen.“ Das sei anders, wenn es um Angriffe auf den Islam gehe: Dann reagiere die Masse „sehr stark“ und sei öffentlich präsent, so Samir. Sich an die eigene Nase zu fassen, sei den meisten Muslimen aber suspekt: „Sie haben Angst zu kritisieren, sie sind es nicht gewohnt, eine Selbstkritik zu machen.“

Mit dem Terror des IS sei für viele Muslime freilich eine Grenze erreicht, so P. Samir weiter. Dass der Wahn gestoppt werden muss, darüber sei man sich einig: „Wir spüren im Nahen Osten, dass es nicht so weitergehen kann. Alle sind damit einverstanden, dass der IS inakzeptabel ist.“ Die Vision eines länderübergreifenden Gottesstaates sei selbst vielen gläubigen Muslimen völlig suspekt, so der Jesuit weiter: „Die Mehrheit sagt: Wir wollen kein Kalifat, wir sind in einer modernen Welt, und wir wollen demokratische Präsidenten und ein System, das die Religion akzeptiert, aber nicht unbedingt, dass alle Kleinigkeiten von der Religion bestimmt werden. Man kann sagen, die Mehrheit der Muslime will das nicht.“


Fehlinterpretation des Dschihad

Muslime aus Europa kämpfen im Irak und in Syrien Seite an Seite mit Islamisten aus arabischen Ländern den „Heiligen Krieg“, den Dschihad. Die IS-Terroristen speisten sich aus einer „unzufriedenen Minderheit“ – unzufrieden nicht nur mit der säkularen Welt des Westens, sondern auch „mit dem, was in der islamischen Welt passiert“, so Samir. Diese Männer, die teilweise aus ganz unterschiedlichen Kontexten kommen, fänden in der Ideologie eines auf Blut gegründeten Gottesstaates einen neuen Lebenssinn: „Hier finden sie eine Antwort und sagen: ,Ja, das ist männlich, das ist eine starke Vision, da mache ich mit! Und wenn ich im Dschihad getötet werde und selbst töte, komme ich in den Himmel. In beiden Fällen bin ich der Sieger.’“

Einen tieferen Grund für den Zulauf zu islamistischen Gruppen wie dem Islamischen Staat (IS) sieht der Islamfachmann in einer „Krise des Islam“, die seit mindestens 50 Jahren schon andauere. Der Westen werde als Gefahr der Glaubensidentität wahrgenommen, die rund um das islamische Gesetz der Scharia kreist. Dieses Gesetz, das den Koran als Bezugspunkt hat, lasse zugleich Lücken für Fehlinterpretationen zu: Fanatiker können diese nutzen, um Gläubige in die Irre zu führen: „Das Problem ist die Ambiguität der Quelle“, bringt Samir das Problem auf den Punkt: „Und die Islamisten interpretieren manche Verse des Korans nach ihrer Vision.“

Beispiel einer solchen Irrlehre sei die Interpretation des „Dschihad“ durch die Extremisten des Islamischen Staates. Der Krieg im Namen des Islam sei in der muslimischen Welt nur akzeptiert, sofern er ein Selbstverteidigungskrieg sei, so Samir. Die heutigen Extremisten des Islam verfälschten diese Grundüberzeugung, da sie einen Aggressionskrieg rechtfertigten und behaupteten, „dass der Dschihad, der aggressive Dschihad, in allen Fällen positiv und erlaubt sei“. Und sie sähen den Dschihad als „Pflicht“, um den ihrer Ansicht nach authentischen Islam zu verbreiten, so Samir weiter.


„Ethik gehört zum Westen"

Ethische Prinzipien seien für diese Kämpfer kein Bezugspunkt mehr, präzisiert der Islamexperte weiter. Menschenrechte würden in ihrer Ideologie als „westliches Gedankengut“ und deshalb umso ablehnungswürdiger eingestuft. Die Schreckensvideos dienten den Terroristen als „Propaganda“ – einerseits, um Angst und Schrecken zu verbreiten, „so dass die Leute, die die das sehen, Angst haben und sagen: ,Ok wir machen, was sie wollen“. Andererseits nutzten die Terroristen die modernen Kommunikationsmittel, um die „einzige Wahrheit des Islam“ in der Welt zu verbreiten, so Samir. Sie hätten verstanden, dass es mit Predigen allein „nicht funktioniert hat“: „Damit haben sie es in 14 Jahrhunderten nicht geschafft“. Deshalb sei ihnen jetzt „jedes Mittel recht“, so Samir.

Ein „Erfolgsmodell“ für die Extremisten sei dabei die gewaltsame Verbreitung des Islam, wie sie in der Frühphase der Religion zu finden war. Dazu Samir: „Wie hat Mohammed selbst den Islam verbreitet? Durch den Dschihad gegen arabische Stämme damals. Und nach ihm haben die ersten Kalifen Palästina, Syrien, Ägypten, Persien, den ganzen Nahen Osten gewonnen, und die Menschen dort sind Muslime geworden mit der Zeit.“ Ein Rückgriff also in die dunkelsten Kapitel des Islam, die auch vielen Muslimen schon lang als überwunden galten. Die Systematik und plakative Grausamkeit der IS-Milizen sei freilich ein neues Element, ergänzt der Islamwissenschaftler: „Es gab wie bei allen Kriegen auch grausame Sachen, aber in so systematischer und geplanter Weise – das gab es meiner Kenntnis nach vorher nicht.“


Irak würde nur Einsatz der UNO akzeptieren

Mit Blick auf einen ausländischen Einsatz gegen den Terror im Irak empfiehlt der ägyptische Jesuit eine Beteiligung der Weltgemeinschaft - ein Einsatz der USA habe keinen Rückhalt in der irakischen Regierung und könne kein breites Bündnis im Land gegen den Terror schaffen, gibt Samir seinen Eindruck wieder: „Sie wollen nicht Amerikaner allein. Wenn aber die UNO verantwortlich ist und eine Armee aufstellt mit amerikanischer Hilfe, aber mit Hilfe der ganzen Welt, wäre das besser. Denn der Irak ist traumatisiert von seiner Erfahrung mit Amerika – das kann man verstehen.“ Die UNO werde in der muslimischen Welt weitgehend als „neutral“ wahrgenommen, so Samir.
(rv 03.09.2014 pr)










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