Islamfachmann Samir: Muslimische Mehrheit will keinen Islamischen Staat
Die Mehrheit der Muslime
in der Welt will keinen Islamischen Staat, wie ihn die Terroristen im Irak propagieren
- das unterstreicht der Islamexperte Pater Samir Khalil Samir im Interview mit Radio
Vatikan. Durch Propagandavideos und Augenzeugenberichte von Opfern im Irak und Syrien
waren in den vergangenen Wochen immer mehr Gräueltaten der IS-Kämpfer bekannt geworden:
Öffentliche Hinrichtungen und Massenmorde, Vergewaltigungen und die Versklavung von
Frauen, unsägliche Grausamkeiten selbst gegenüber Kindern. Der Großteil der muslimischen
Welt sehe diese Taten mit Abscheu, berichtet der Ägypter Samir, der viel im Nahen
Osten herumkommt. Die Brutalität und das Blutvergießen des IS seien den Menschen „zu
viel“.
Immer mehr Vertreter des Islam weltweit haben sich inzwischen vom Terror
des IS abgegrenzt. Mit dem Islam habe die Blutpropaganda der Islamisten im Irak und
in Syrien nichts zu tun, sagten Islamvertreter muslimisch dominierter Staaten wie
Malaysia, Indonesien, Saudi-Arabien und Ägypten. „Hier und da“ habe es Reaktionen
gegeben, kommentiert Samir diese Einzelstimmen. Von einer gemeinsamen Verurteilung
der Invasion im Nahen Osten, etwa durch die Arabische Liga, habe er aber bislang nichts
gesehen: „Wenn es eine gemeinsame Reaktion gegeben habe, hat die keinen großen Einfluss
gehabt.“
Die Mehrheit sagt: „Wir wollen kein Kalifat“
Auch
in öffentliche Massenproteste habe sich die ablehnende Haltung nicht übersetzt, bedauert
der Islamwissenschaftler, der an diesem Mittwochmorgen noch in Beirut war: „Die Reaktionen
waren intellektuelle; Demonstrationen auf der Straße haben wir keine gesehen.“Das sei anders, wenn es um Angriffe auf den Islam gehe: Dann reagiere die Masse
„sehr stark“ und sei öffentlich präsent, so Samir. Sich an die eigene Nase zu fassen,
sei den meisten Muslimen aber suspekt: „Sie haben Angst zu kritisieren, sie sind es
nicht gewohnt, eine Selbstkritik zu machen.“
Mit dem Terror des IS sei für
viele Muslime freilich eine Grenze erreicht, so P. Samir weiter. Dass der Wahn gestoppt
werden muss, darüber sei man sich einig: „Wir spüren im Nahen Osten, dass es nicht
so weitergehen kann. Alle sind damit einverstanden, dass der IS inakzeptabel ist.“
Die Vision eines länderübergreifenden Gottesstaates sei selbst vielen gläubigen Muslimen
völlig suspekt, so der Jesuit weiter: „Die Mehrheit sagt: Wir wollen kein Kalifat,
wir sind in einer modernen Welt, und wir wollen demokratische Präsidenten und ein
System, das die Religion akzeptiert, aber nicht unbedingt, dass alle Kleinigkeiten
von der Religion bestimmt werden. Man kann sagen, die Mehrheit der Muslime will das
nicht.“
Fehlinterpretation des Dschihad
Muslime aus
Europa kämpfen im Irak und in Syrien Seite an Seite mit Islamisten aus arabischen
Ländern den „Heiligen Krieg“, den Dschihad. Die IS-Terroristen speisten sich aus einer
„unzufriedenen Minderheit“ – unzufrieden nicht nur mit der säkularen Welt des Westens,
sondern auch „mit dem, was in der islamischen Welt passiert“, so Samir. Diese Männer,
die teilweise aus ganz unterschiedlichen Kontexten kommen, fänden in der Ideologie
eines auf Blut gegründeten Gottesstaates einen neuen Lebenssinn: „Hier finden sie
eine Antwort und sagen: ,Ja, das ist männlich, das ist eine starke Vision, da mache
ich mit! Und wenn ich im Dschihad getötet werde und selbst töte, komme ich in den
Himmel. In beiden Fällen bin ich der Sieger.’“
Einen tieferen Grund für den
Zulauf zu islamistischen Gruppen wie dem Islamischen Staat (IS) sieht der Islamfachmann
in einer „Krise des Islam“, die seit mindestens 50 Jahren schon andauere. Der Westen
werde als Gefahr der Glaubensidentität wahrgenommen, die rund um das islamische Gesetz
der Scharia kreist. Dieses Gesetz, das den Koran als Bezugspunkt hat, lasse zugleich
Lücken für Fehlinterpretationen zu: Fanatiker können diese nutzen, um Gläubige in
die Irre zu führen: „Das Problem ist die Ambiguität der Quelle“, bringt Samir das
Problem auf den Punkt: „Und die Islamisten interpretieren manche Verse des Korans
nach ihrer Vision.“
Beispiel einer solchen Irrlehre sei die Interpretation
des „Dschihad“ durch die Extremisten des Islamischen Staates. Der Krieg im Namen des
Islam sei in der muslimischen Welt nur akzeptiert, sofern er ein Selbstverteidigungskrieg
sei, so Samir. Die heutigen Extremisten des Islam verfälschten diese Grundüberzeugung,
da sie einen Aggressionskrieg rechtfertigten und behaupteten, „dass der Dschihad,
der aggressive Dschihad, in allen Fällen positiv und erlaubt sei“. Und sie sähen den
Dschihad als „Pflicht“, um den ihrer Ansicht nach authentischen Islam zu verbreiten,
so Samir weiter.
„Ethik gehört zum Westen"
Ethische
Prinzipien seien für diese Kämpfer kein Bezugspunkt mehr, präzisiert der Islamexperte
weiter. Menschenrechte würden in ihrer Ideologie als „westliches Gedankengut“ und
deshalb umso ablehnungswürdiger eingestuft. Die Schreckensvideos dienten den Terroristen
als „Propaganda“ – einerseits, um Angst und Schrecken zu verbreiten, „so dass die
Leute, die die das sehen, Angst haben und sagen: ,Ok wir machen, was sie wollen“.
Andererseits nutzten die Terroristen die modernen Kommunikationsmittel, um die „einzige
Wahrheit des Islam“ in der Welt zu verbreiten, so Samir. Sie hätten verstanden, dass
es mit Predigen allein „nicht funktioniert hat“: „Damit haben sie es in 14 Jahrhunderten
nicht geschafft“. Deshalb sei ihnen jetzt „jedes Mittel recht“, so Samir.
Ein
„Erfolgsmodell“ für die Extremisten sei dabei die gewaltsame Verbreitung des Islam,
wie sie in der Frühphase der Religion zu finden war. Dazu Samir: „Wie hat Mohammed
selbst den Islam verbreitet? Durch den Dschihad gegen arabische Stämme damals. Und
nach ihm haben die ersten Kalifen Palästina, Syrien, Ägypten, Persien, den ganzen
Nahen Osten gewonnen, und die Menschen dort sind Muslime geworden mit der Zeit.“Ein Rückgriff also in die dunkelsten Kapitel des Islam, die auch vielen Muslimen
schon lang als überwunden galten. Die Systematik und plakative Grausamkeit der IS-Milizen
sei freilich ein neues Element, ergänzt der Islamwissenschaftler: „Es gab wie bei
allen Kriegen auch grausame Sachen, aber in so systematischer und geplanter Weise
– das gab es meiner Kenntnis nach vorher nicht.“
Irak würde nur
Einsatz der UNO akzeptieren
Mit Blick auf einen ausländischen Einsatz
gegen den Terror im Irak empfiehlt der ägyptische Jesuit eine Beteiligung der Weltgemeinschaft
- ein Einsatz der USA habe keinen Rückhalt in der irakischen Regierung und könne kein
breites Bündnis im Land gegen den Terror schaffen, gibt Samir seinen Eindruck wieder:
„Sie wollen nicht Amerikaner allein. Wenn aber die UNO verantwortlich ist und eine
Armee aufstellt mit amerikanischer Hilfe, aber mit Hilfe der ganzen Welt, wäre das
besser. Denn der Irak ist traumatisiert von seiner Erfahrung mit Amerika – das kann
man verstehen.“ Die UNO werde in der muslimischen Welt weitgehend als „neutral“ wahrgenommen,
so Samir. (rv 03.09.2014 pr)