Europa: Erneutes Bewusstsein für friedliche Lösungen – ein Gespräch mit Hans-Gert
Pöttering
Wenn wir
heute an Europa denken, dann denken wir oft an seine Ränder, an die Ukraine, wo Krieg
herrscht, oder an Lampedusa, wo die Opfer des Krieges ankommen. Von den internationalen
Organisationen hört man dagegen recht wenig. Hans-Gert Pöttering war lange Zeit in
einer dieser Organisation prägend aktiv: Er ist der einzige Abgeordnete, der dem Europaparlament
von Anfang an ununterbrochen bis zu diesem Sommer angehört hat. Er war Präsident des
Parlamentes und hat die christdemokratische Fraktion geleitet. Pater Bernd Hagenkord
hat ihn gefragt, ob die Zeit des Zusammenwachsens vorbei sei.
„Gerade, wenn
man über die Ukraine redet, dann muss man darauf hinweisen, dass die Europäische Union
zwar Europa ist, aber nicht das ganze Europa. Die Ukraine gehört zu Europa, aber nicht
zur Europäischen Union. Und die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine - neben
der Krim die Einmischung in der Ostukraine - ist auch nur möglich, weil die Ukraine
nicht Teil der Europäischen Union ist. Und diese schlimmen Vorgänge um die Ukraine
sollten uns Europäer in der Europäischen Union, also der Staatengemeinschaft von 28
Ländern mit 500 Millionen Menschen, ein neues oder erneutes Bewusstsein vermitteln,
das wir das Glück haben, in der Europäischen Union in friedlicher Weise die Herausforderungen
und Probleme in der Europäischen Union zu lösen. Wir lösen unsere gemeinsamen Herausforderungen,
die wir in der Europäischen Union haben, auf Grundlage des Rechtes. Und das Recht
sichert den Frieden. Das ist das historisch völlig Neue, dass die Herausforderungen,
vor denen wir in dieser großen Gemeinschaft der Europäischen Union stehen, auf der
Grundlage des Gesprächs bewältigen, des Dialogs und friedlicher Abstimmung. Wir sollten
wegen der schlimmen Ereignisse in der Ukraine durch das Verhalten Russlands und durch
andere Ereignisse dort in der Ukraine erneut den Wert der Europäischen Union erkennen
– auch als einer wirklichen Wertegemeinschaft. Sie haben auch die Grenzen Europas
angesprochen, das war Teil meiner Gespräche hier in Rom zum Beispiel mit dem Innenminister
Angelino Alfano. Als Europäische Union müssen wir unseren Beitrag zur Grenzsicherung
leisten, damit die Menschen, die zu uns wollen, nicht im Meer ertrinken. Andererseits
müssen wir aber auch den Ländern helfen, aus denen diese bedauernswerten Menschen
kommen: Also unsere Handlungsfähigkeit insbesondere nach außen müssen wir als Europäischen
Union stärken.“
Wir gedenken des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor genau
100 Jahren, und etwa 70 Jahre sind vergangen seit dem Zweiten Weltkrieg - also der
Initialzündungen, wenn man so will, für das Zusammenwachsen Europas. Aber davon reden
wir im Augenblick weniger. Die Öffentlichkeit nimmt das Zusammenwachsen weniger wahr.
Ist es derzeit keine politische Perspektive mehr?
„Mein Eindruck ist doch,
dass im Europawahlkampf, die Wahlen liegen ja noch nicht viele Wochen zurück, das
Thema Frieden wieder eine größere Rolle gespielt hat, wegen der Ereignisse um die
Ukraine. Aber Sie haben recht, der Friedensgedanke, der ja die Grundlage der europäischen
Einigungspolitik war und nach meiner Überzeugung auch noch heute der Hauptgrund ist,
wenn auch nicht der einzige, der Friedensgedanke ist wieder etwas deutlicher geworden
als er in den vergangenen Jahren war. Und deswegen begrüße ich es, wenn wir auch wieder
über die Grundlagen mehr diskutieren, die uns zur europäischen Einigungspolitik geführt
haben. Dazu gehört der Friedensgedanke, der aber immer verbunden werden muss mit dem
Freiheitsgedanken.“
Europa steckt, wenn wir so wollen, in der Krise. Katalonien
möchte sich selbständig machen und Schottland stimmt am 18. September ab, ob es sich
von Großbritannien trennen will. Thema der Stunde scheint also eher das Voneinander-Abgrenzen
und nicht so sehr eine größere Einheit. Würden Sie dem zustimmen?
„Das
ist die Frage, wie man das sieht. Wenn Sie von Schottland reden, oder auch Katalonien,
die wollen sich möglicherweise, wir wissen ja nicht, wie das Referendum in Schottland
ausgeht, aus ihrer eigenen staatlichen Nationalität lösen. Aber sowohl die Schotten
als auch die Katalanen sind sehr europäisch. Und die Frage stellt sich, wie wird das
Europa der Zukunft organisiert sein? Und wir, oder ich, vertrete die Meinung mit meinen
politischen Freunden in der Europäischen Volkspartei, also den Christdemokraten, dass
wir verschiedene Ebenen Europas haben: Wir haben die kommunale Ebene, wie haben die
Ebene der Regionen, in Deutschland würden wir sagen, der Bundesländer, wir haben die
Nationale Ebene und wir haben die Ebene der Europäischen Union. Und man sollte diese
vier Ebenen nicht verstehen als im Gegensatz zueinander, sondern als etwas sich etwas
Ergänzendes. Das heißt, wir haben nicht nur ein Europa der Regionen, das einige gerne
alleine hätten, wir haben nicht nur ein Europa der Nationalstaaten, was manche gerne
sähen. Nein, wir haben auch das Europa der Kommunen, was ganz wichtig ist, und die
europäischen Institutionen, die über den Nationen stehen, den 28 Ländern der Europäischen
Union. Das heißt, der Europäische Rat, die Regierung mit den Staats- und Regierungschefs,
dann die Europäische Kommission mit einem Präsidenten und das direkt gewählte Europäische
Parlament. Also man darf diese verschiedenen Ebenen und Institutionen nicht im Gegensatz
zueinander befindlich verstehen, sondern sie ergänzen sich und gehören zusammen.“
Der
politische Diskurs, so scheint es mir jedenfalls, scheint aber dann doch ein bisschen
in eine andere Richtung zu gehen: Ich war zum Beispiel in Barcelona während des Wahlkampfes
der letzten Abstimmung und habe in Schottland die Fernsehdebatten verfolgt. Man könnte
auch die Debatte um die „Ausländermaut“ in Deutschland anführen. Es scheint also von
der Debattenkultur her doch eher auf Konfrontation zu gehen, auf Abgrenzung.
„Ja,
aber im Falle von Schottland und Katalonien [sehe ich] nicht gegen die Europäischen
Union eine Abgrenzung, sondern eine Abgrenzung gegenüber dem Nationalstaat, in dem
sich Schottland und Katalonien befinden. Also im Falle Schottlands das Vereinigte
Königreich, wobei sich die Schotten auch als eine eigene Nation verstehen, die aber
wiederum zu einem anderen Staat gehört, nämlich dem Vereinigten Königreich. Ich weiß
nicht, ob es dafür eine Mehrheit gibt, ich hoffe, dass die Schotten und die Engländer
und die Waliser und die Nordiren zusammen bleiben, auch als ein starker Teil der Europäischen
Union. Das heißt, Schottland richtet sich nicht gegen die Europäischen Idee. Die Schotten
waren historisch immer sehr freundlich gegenüber dem Orient, dem Kontinent, weil die
Engländer eben, mit denen sie im Disput waren, eine andere Haltung hatten, sodass
man das Unabhängigkeitsstreben von Schottland wie auch in Katalonien nicht als gegen
Europa gerichtet verstehen muss, sondern als gegen den Nationalstaat gerichtet verstehen
muss - im Falle von Katalonien also gegen den spanischen Staat und im Falle von Schottland
gegen das Vereinigte Königreich.“
Also quasi wären diese konfrontativen
Stimmungen eher lokal zuzuordnen, würden Sie sagen. Das hat nichts Innereuropäisches,
keine Sprengkraft?
„Ja, es ist schon eine Sprengkraft, weil das ja eine
Wirkung hat, wenn Schottland sich aus dem vereinigten Königreich lösen sollte. Dann
müssten ja Verhandlungen stattfinden, wenn Schottland Mitglied der Europäischen Gemeinschaft
werden wollte mit der Europäischen Union. Und es würde alles sehr viel komplizierter,
wenn die Nationalstaaten sich zum Teil auflösen in Regionen und nicht mehr das Band
der Nationalität haben und die sich lösenden Regionen dann aber wieder Mitglied werden
wollen in der Europäischen Union. Dann wird Europa noch komplizierter als es heute
ist. Deswegen ist es meine sehr deutliche Meinung, dass wir ein Interesse daran haben
sollten, dass die Nationalstaaten in ihrer bisherigen Formation, in ihrer bisherigen
Gliederung erhalten bleiben, dass aber die Nationalstaaten ihren Regionen auch ein
stärkeres Gewicht geben - nicht der Autonomie, der vollständigen Selbstständigkeit,
das würde zu weit gehen, aber der Wahrnehmung mehr regionaler Rechte. Im Prinzip sollte
es bei den vier Ebenen bleiben: die kommunale Ebene, die regionale, die nationale
und die europäische, aber mit auch größeren Möglichkeiten für die Region dort, wo
es gewünscht wird.“
Themawechsel. Herr Pöttering, Sie waren lange Jahre
im Zentrum Europas politisch engagiert. In der Rückschau: Was waren aus Ihrer Sicht
Ihre Erfolge, die Zeit, wo Sie sagen würden, das hat Europa mit geprägt und das hat
Sie besonders beeindruckt? „Das große Privileg, von der ersten Europawahl
1979 bis jetzt zu dieser letzten Europawahl formell bis zum 1. Juli 2014, also 35
Jahre, dem Europäischen Parlament anzugehören. Und im Übrigen, wenn ich das hinzufügen
darf, als einziger. Wenn ich Europa von heute betrachte, in der rückwärtigen Schau
von 1979, dann muss ich sagen, es ist ein Wunder, wie Europa heute aussieht. Wir sind
hier bei Radio Vatikan, und ich möchte besonders die Rolle von Papst Johannes Paul
II. hervorheben, der seinen polnischen Landsleuten in den 1980er Jahren zugerufen
hat: „Habt keine Angst, verändert die Welt, verändert diese Welt“. Und Polen gehörte
zum Warschauer Pakt, zur kommunistischen Welt. Dass Polen und andere Länder Mitteleuropas,
Estland, Lettland, Litauen, die zur Sowjetunion gehörten, heute Mitglied der Wertegemeinschaft
der Europäischen Union sind, ist für mich eine Entwicklung, die aus der Perspektive
des Jahres 1979 wie eine Vision erschienen wäre, oder wenn wir das sagen wollen, wie
ein Wunder. Deswegen möchte ich uns in der Europäischen Union ermutigen, dass wir,
bei aller Demut, die wir natürlich haben müssen, politisch und auch als Christen,
dass wir etwas selbstbewusster sind: Unsere Werte haben sich durchgesetzt - und nicht
der Kommunismus. Der totalitäre Kommunismus mit dem Prinzip der Klasse ist, wie vorher
auch der Nationalsozialismus mit dem Prinzip der Rasse, gescheitert. Die Organisierung
der Menschen in einem totalitären Land ist gescheitert. Der Mensch als Person ist
mit einer Würde behaftet - und das entspricht ja auch unserem christlichen Menschenbild:
Jeder Mensch ist einzigartig als Person, hat Verantwortung für sich, Verantwortung
für die Gemeinschaft. Wir haben unsere Werte, die Würde des Menschen, die Freiheit,
die Demokratie, das Recht, der Frieden. Und das hat sich durchgesetzt. Und darauf
sollten wir stolz, oder vielleicht anders, dafür sollten wir sehr dankbar sein. Nur
darf uns das niemals selbstzufrieden machen. Die Menschen und Staaten und Staatenorganisationen
bleiben immer gefährdet, und jede Generation hat ihre eigenen Herausforderungen. Und
da Sie gefragt haben nach meinen eigenen Möglichkeiten: Ich unglaublich dankbar dafür,
dass ich die Aufgaben im Europäischen Parlament wahrnehmen durfte, die ich wahrnehmen
konnte, zum Beispiel auch stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Christdemokraten
in den Jahren 1994 bis 1999. Ich konnte viel dafür tun, dass nicht nur Estland Mitglied
der Europäischen Union wurde, sondern auch Lettland und Litauen. Dann die siebeneinhalb
Jahre als Fraktionsvorsitzender der größten Fraktion von 1999 bis 2007. Da konnte
ich die Europäische Verfassung fördern, die dann am Ende der Vertrag von Lissabon
wurde. Die Charta der Grundrechte, die ich als Präsident des Europäischen Parlamentes
am 12. Dezember 2007 im Europäischen Parlament unterschreiben konnte, zusammen mit
dem Kommissionspräsidenten und dem Ratspräsidenten. Oder auch die Berliner Erklärung
vom 25. März 2007 in Erinnerung an die Römischen Verträge, was dann zum Vertrag von
Lissabon führte. Die Öffnung der Grenzen kurz vor Weihnachten 2007 nach Polen und
den anderen Mitteleuropäischen Staaten. Es war eine großartige, erfüllte Zeit für
die europäische Einigung. Dass ich dieses mitbegleiten, zum Teil mitgestalten durfte,
empfinde ich mit großer Dankbarkeit. Aber wir bleiben gefährdet: Und deswegen muss
die Generation, die jetzt die Verantwortung hat, natürlich den Weg der Einigung weitergehen.
Wir haben neue Herausforderungen mit der gemeinsamen europäischen Währung, mit der
Rückführung von Defiziten, mit der Förderung von Wachstum, mit der Reform und Flexibilisierung
unserer Wirtschaft, damit wir wettbewerbsfähig bleiben, mit der Sicherung unserer
Grenzen, einer humanen, menschlichen Asyl- und Immigrationspolitik. Das alles sind
neue Aufgaben, die die gegenwärtige politische Generation lösen muss. Und als Vorsitzender
der Konrad Adenauer Stiftung bemühe ich mich so gut ich kann, diese Herausforderung
mit zu begleiten.“
Sie haben ein Buch geschrieben, Herr Pöttering: „Zum
Glück vereint“. Sind wir das, vereint?
„Die Formulierung des Buchtitels
heißt, wir sind zu unserem Glück vereint. Das ist eine Formulierung der Berliner Erklärung,
also einer gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Länder der Europäischen Union,
der Kommission und des Parlamentes. Bundeskanzlerin Angela Merkel, in ihrer damaligen
Eigenschaft als Präsidentin des Europäischen Rates, der Präsident der Kommission,
José Manuel Durao Barroso, und ich als Präsident damals haben gemeinsam diese Erklärung
unterschrieben. Ja, wir sind zu unserem Glück vereint. Aber es bleibt gefährdet, und
wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, dass das so bleibt, dass wir vereint bleiben.
Wenn jeder sich anstrengt, jeder die Interessen, die Überlegungen, die Überzeugungen,
die Absichten des Partners in den Ländern der Europäischen Union, in den europäischen
Institutionen anhört, reflektiert, dann, glaube ich, haben wir in einer unglaublich
gefährdeten Welt als Europäer in der Europäischen Union eine gute Chance, durch dieses
21. Jahrhundert zu gehen. Aber wir dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen,
sondern wir müssen täglich weiterarbeiten. Und Europa entsteht ja nicht mit einem
großen Knall oder wie eine reife Frucht, die vom Baum fällt, sondern Europa bedeutet
das tägliche Bemühen um Details und Einzelheiten. Und daraus entsteht dann das Große.“
(rv
31.08.2014 ord) Also quasi wären dieser konfrontativen Stimmungen eher lokal
zuzuordnen, würden Sie sagen. Das hat nichts innereuropäisches, keine Sprengkraft?
„Ja,
es ist schon eine Sprengkraft, weil das ja eine Wirkung hat, wenn Schottland sich
aus dem vereinigten Königreich lösen sollte. Dann müssten ja Verhandlungen stattfinden,
wenn Schottland Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden wollte mit der Europäischen
Union. Und es würde alles sehr viel komplizierter, wenn die Nationalstaaten sich zum
Teil auflösen in Regionen und nicht mehr das Band der Nationalität haben und die sich
lösenden Regionen dann aber wieder Mitglied werden wollen in der Europäischen Union.
Dann wird Europa sehr viel komplizierter noch als es heute ist. Und deswegen ist es
meine sehr deutliche Meinung, dass wir ein Interesse daran haben sollten, dass die
Nationalstaaten in ihrer bisherigen Formation, in ihrer bisherigen Gliederung erhalten
bleiben, dass aber die Nationalstaaten ihren Regionen auch ein stärkeres Gewicht
nicht der Autonomie geben, der vollständigen Selbstständigkeit, das würde zu weit
gehen,. Aber der Wahrnehmung mehr regionaler Rechte, sodass es im prinzip dabei bleiben
sollte, die kommunale Ebene zu haben, die regionale, die nationale und die europäische,
aber mit auch größeren Möglichkeiten für die Region dort, wo es gewünscht wird.“
Themawechsel.
Herr Pöttering, Sie waren lange, lange Jahre im Zentrum Europas politisch engagiert.
In der Rückschau: Was würden Sie sagen, waren Ihre erfolge, die Zeit , wo Sie sagen
würden, das hat Europa mit geprägt und das hat Sie besonders beeindruckt?
„Ja,
das große Privileg von der ersten Europawahl im Jahr 1979 bis jetzt zu dieser letzten
Europawahl formell bis zum 1. Juli 2014, also 35 Jahre dem Europäischen Parlament
anzugehören, und im Übrigen, wenn ich das hinzufügen darf, als einziger, und wenn
ich Europa von heute betrachte, in der rückwertigen Schau von 1979, dann muss ich
sagen, ist es ein Wunder, wie Europa heute aussieht. Und wir sind hier bei Radio Vatikan
und ich möchte besonders die Rolle von Papst Johannes Paul II. hervorheben, der seinen
polnischen Landleuten in den 80er Jahren zugerufen hat: „Habt keine Angst, verändert
die Welt, verändert diese Welt“. Und Polen gehörte zum Warschauer Pakt, zur kommunistischen
Welt. Und dass Polen mit anderen Ländern Mitteleuropas, Estland, Lettland, Litauen,
die zur Sowjetunion gehörten, heute Mitglied der Wertegemeinschaft der Europäischen
Union sind oder Polen ist und die anderen Länder dazu sind, das ist für mich eine
Entwicklung, die aus der Perspektive des Jahres 1979 wie eine Vision oder wenn wir
sagen wollen, wie ein Wunder erschienen wäre. Und deswegen möchte ich uns in der Europäischen
Union ermutigen, dass wir, bei aller Demut, die wir natürlich haben müssen, politisch
und auch als Christen, dass wir etwas selbstbewusster sind: Unsere Werte haben sich
durchgesetzt und nicht der Kommunismus. Der totalitäre Kommunismus mit dem Prinzip
der klasse wie vorher auch der Nationalsozialismus mit dem Prinzip der Rasse sind
gescheitert. Die Organisierung der Menschen in einem totalitären Land ist gescheitert.
Der Mensch als Person ist mit einer Würde behaftet - und das entspricht ja auch unserem
christlichen Menschenbild: Jeder Mensch ist einzigartig als Person, hat Verantwortung
für sich, Verantwortung für die Gemeinschaft. Wir haben unsere Werte, die Würde des
Menschen, die Freiheit, die Demokratie, das Recht, der Frieden. Und das hat sich durchgesetzt.
Und darauf sollten wir stolz, oder vielleicht anders, dafür sollten wir sehr dankbar
sein. Nur darf uns das niemals selbstzufrieden machen. Die Menschen und Staaten und
Staatenorganisationen bleiben immer gefährdet und jede Generation hat ihre eigenen
Herausforderungen. Und da sie gefragt haben nach meinen eigenen Möglichkeiten: Ich
unglaublich dankbar dafür, dass ich die Aufgaben im Europäischen Parlament wahrnehmen
durfte, die ich wahrnehmen konnte, zum Beispiel auch stellvertretender Fraktionsvorsitzender
der Christdemokraten in den Jahren 94 bis 99. Ich konnte sehr viel tun, dass nicht
nur Estland Mitglied der Europäischen Union wurde, sondern Lettland und Litauen. Dann
die siebeneinhalb Jahre als Fraktionsvorsitzender der größten Fraktion von 99 bis
2007. Ich konnte sehr fördern die europäische Verfassung, die dann am Ende der Vertrag
von Lissabon wurde. Die Charta der Grundrechte, die ich unterschreiben konnte als
Präsident des Europäischen Parlamentes am 12. Dezember 2007 im Europäischen Parlament
zusammen mit dem Kommissionspräsidenten und dem Ratspräsidenten. Oder auch die Berliner
Erklärung vom 25. März 2007 in Erinnerung an die römischen Verträge, was dann zum
Vertrag von Lissabon führte. Die Öffnung der Grenzen kurz vor Weihnachten 2007 nach
Polen und den anderen Mitteleuropäischen Staaten. Und es war eine großartige, erfüllte
Zeit für die europäische Einigung und dass ich dieses mitbegleiten, zum Teil mitgestalten
durfte, empfinde ich mit großer Dankbarkeit. Aber wir bleiben gefährdet: Und deswegen
muss die Generation, die jetzt die Verantwortung hat, natürlich den Weg der Einigung
weitergehen. Wir haben neue Herausforderungen mit der gemeinsamen europäischen Währung,
mit der Rückführung von Defiziten, mit der Förderung von Wachstum, mit der Reform
und Flexibilisierung unserer Wirtschaft, damit wir wettbewerbsfähig bleiben, mit der
Sicherung unserer Grenzen, einer humanen, menschlichen Asyl- und Immigrationspolitik.
Das alles sind neue Aufgaben, die die gegenwärtige politische Generation lösen muss.
Und als Vorsitzender der Konrad Adenauer Stiftung bemühe ich mich, so gut ich kann,
diese Herausforderung mit zu begleiten.“
Sie haben ein Buch geschrieben,
Herr Pöttering: „Zum Glück vereint“. Sind wir das, vereint?
„Die Formulierung
des Buchtitels heißt, wir sind zu unserem Glück vereint. Das ist eine Formulierung
der Berliner Erklärung, also einer gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Länder
der Europäischen Union, der Kommission und des Parlamentes. Bundeskanzlerin Angela
Merkel, in ihrer damaligen Eigenschaft als Präsidentin des Europäischen Rates, der
Präsident der Kommission, José Manuel Durao Barroso, und ich als Präsident damals
haben gemeinsam diese Erklärung unterschrieben. Ja, wir sind zu unserem Glück vereint.
Aber es bleibt gefährdet und wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, dass das so
bleibt, dass wir vereint bleiben. Und, wenn jeder sich anstrengt, jeder die Interessen,
die Überlegungen, die Überzeugungen, die Absichten des Partners in den Ländern der
Europäischen Union, in den europäischen Institutionen anhört, reflektiert, dann, glaube
ich, haben wir in einer unglaublich gefährdeten Welt als Europäer in der Europäischen
Union eine gute Chance, durch dieses 21. Jahrhundert zu gehen. Aber wir dürfen uns
nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, sondern wir müssen täglich weiterarbeiten. Und
Europa entsteht ja nicht mit einem großen Knall, wie eine reife Frucht, die vom Baum
fällt, sondern Europa bedeutet, dass tägliche Bemühen um Details und Einzelheiten
und daraus entsteht dann das Große.“