Islamfachmann: Kalifat ist der alte Traum vom Gottesstaat
Er startete
als Terrorführer - und landete als (selbsternannter) Kalif: Der Anführer der islamistischen
Terror-Gruppe Islamischer Staat, Abu Bakr Al-Baghdadi, hat alle Muslime der Welt aufgerufen,
ihn als Führer aller Gläubigen anzuerkennen und ihm zu gehorchen. Was aber heißt das
nun? Der ägyptische Jesuit Pater Samir Khalil Samir ist Islamwissenschaftler und lehrt
an Universitäten in Rom, Paris und Beirut. Er vergleicht die Idee des Kalifates mit
einer antiken Vorstellung der perfekten Welt.
„Man kann sagen: Das ist ein
Traum. Denn das ist keine Realität, sie werden kein Kalifat errichten können. Jedes
Land heute - Syrien, Irak, Tunesien, Libyen, Marokko, Algerien, Ägypten und die arabischen
Inseln - existiert für sich. Niemand denkt daran, dass sie ein gemeinsames Land werden
- also ein Kalifat. Das ist ein alter Traum..."
Ein alter Traum von einem
islamischen Gottesstaat. Dieser ist erst im Jahr 1924 von Atatürk endgültig abgeschafft
worden, als er dem Osmanischen Reich den Garaus machte.
„Manche Muslime
träumen davon, aber nicht die Mehrheit. Denn die Mehrheit will in einer neuen Struktur
der Welt leben, in unabhängigen Staaten, die jedoch auch Unionen untereinander eingehen
können, wie zum Beispiel die Europäische Union."
Laut Pater Samir werden
die Terroristen vom Islamischen Staat also keinen Erfolg haben. Lediglich fanatische
Jugendliche, die sich in einen religiös aufgeladenen Begriff verbissen haben, interessierten
sich für ein solches Gebilde, meint Pater Samir. Dabei steht der Begriff des Kalifats
auch für eine islamische Blütezeit, vor allem im 9., 10. und 11. Jahrhundert: Damals
sei der Islam offen für andere Kulturen gewesen. Es gab damals einen regen Austausch,
so Samir.
„Die Araber hatten Syrien erobert, Persien, Ägypten - und dadurch
hatten sie die griechische Kultur erobert. Die syrische Kultur erhielten sie zusätzlich
durch die syrischen Christen. Und sehr viel durch die persische Kultur. Dazu kamen
die christlichen Philosophen von syrisch-sprachiger und griechischer Kultur... Die
Kultur ist stark und wunderbar, wenn sie offen ist!"
Ähnlich wie die römische
Kultur sei auch die arabische Kultur ein wahrer Schatz und habe ein reiches Kulturerbe
hinterlassen. Dennoch wäre es absurd, meint der Jesuit, wenn wir nun deswegen wieder
zurück wollten zu unserem Römischen Reich der Antike - nur weil einiges damals vielleicht
besser war. Pater Samir warnt davor, dass der Wunsch nach einer islamischen Einheit
die Verklammerung von Religion, Kultur und Staat bedeutet. Er unterstreicht die Bedeutung
des Säkularen. Im Islam könnte durchaus eine „Diktatur der Religion“ entstehen.
„Das
ist das Problem, besonders heute mit den Islamisten. Sie wollen die wunderbare Einheit
aufbauen: zwischen Religion und Politik, aber auch: wie man isst, wie man sich kleidet.
Sogar der Bart. Es gab eine Diskussion letzten Monat im ägyptischen Fernsehen zwischen
Salafisten und Liberalen, beide Professoren für Islamisches Recht. Der Salafist fragte
den Liberalen, warum er keinen Bart hätte. Er müsse doch einen Bart tragen! Genau
das ist eine Diktatur der Religion."
Eine solche „Diktatur der Religion“
lehnen allerdings sehr viele Muslime ab, meint Pater Samir. So sei die Mehrheit nicht
bloß gegen ein Kalifat, sondern überhaupt gegen eine Radikalisierung ihrer Religion.
Sie plädierten für eine Modernisierung, eine Anpassung ihrer Religion an das aktuelle
Leben im Hier und Jetzt. Pater Samir sagt aber auch, dass der Islam durchaus auch
in einigen Punkten ein Vorbild für die römisch-katholische Kirche sein könnte, zum
Beispiel, wenn es um das fünfmalige Beten am Tag geht. Das sei schon etwas Besonderes,
so der überwiegend im Libanon lebende Ägypter.
„Ich glaube, wir müssen zusammen
- Christen, Muslime und andere - eine gemeinsame Kultur finden. Ich spreche jetzt
als Ägypter und als christlicher Araber. Wir wollen eine neue arabische Gesellschaft
aufbauen. Diese merke ich teilweise im Libanon - Muslime und Christen und auch Nicht-Gläubiger
wollen gemeinsam eine Kultur bilden. Und das sieht man auch: Deswegen ist der Libanon
offener für alle Menschen.“