Brasilien: Kirche drängt auf mehr Mitbestimmung des Volkes
Nicht nur beim Fußball
soll das ganze brasilianische Volk mitfiebern dürfen, auch bei der sozialen Gesetzgebung
soll es stärker beteiligt werden: Innerhalb der laufenden Debatte um mehr Bürgerbeteiligung
macht sich Brasiliens katholische Kirche für mehr Mitsprache ihrer Landsleute bei
politischen Entscheidungsprozessen stark. Luiz Demetrio Valentini ist Bischof von
Jales im brasilianischen Bundesstaat Sao Paolo und ehemaliger Zuständiger für Sozialpastoral
in der brasilianischen Bischofskonferenz. Er erläutert die Forderungen im Gespräch
mit Radio Vatikan. Über Volksbefragungen „bei Angelegenheiten von gesellschaftlichem
Interesse“, Bürgerräte und öffentliche Anhörungen sollen die Menschen stärker einbezogen
werden:
„Wenn das Volk sich organisieren und einen Vorschlag machen will,
dann soll es das auch tun können, etwa mit einer Anfrage an den Nationalkongress für
ein soziales Gesetz. Die Bischofskonferenz hat sich hier mit vielen anderen sozialen
Organisationen zusammengetan, um diese politische Reform einzufordern. Wir sammeln
dafür gerade Unterschriften. Gebraucht werden die Unterschriften von einem Prozent
aller Wahlberechtigten in Brasilien, also 1,3 Millionen.“
Die Initiative
zielt somit auf mehr politische Teilhabe des Volkes. Dabei hatte Präsidentin Dilma
Roussef etwa Ähnliches bereits in die Wege geleitet, erzwungen von den Zehntausenden,
die letztes Jahr auf Brasiliens Straßen massive Sozialproteste vorgetragen hatten.
Roussef hatte daraufhin ein Dekret ausarbeiten lassen, das jedoch auf Widerstand im
konservativen Teil der brasilianischen Öffentlichkeit stößt. Die Kirche fürchtet nun,
dass die bitter nötige politische Reform, von der „seit zwei Jahren schon die Rede“
ist, niemals umgesetzt wird:
„Weil es widersprüchliche Interessen im Herzen
des Nationalkongresses gibt. Doch nur wenn die Leute sich organisieren, das Volk mitbestimmt,
kann man zu einer echten politischen Reform gelangen. Seit Bestehen des aktuellen
Nationalkongresses gab es nie eine politische Reform. Es braucht eine tiefere Veränderung,
vor allem in den Strukturen der Wahlgesetzgebung.“
Der Bischof spielt hier
auf die Zusammensetzung des brasilianischen Parlamentes an. Die Kirche kritisiert,
dass dort nicht alle Bürgergruppen vertreten sind.
„Es gibt dort zum Beispiel
keine Indios, die kommen nicht vor, es ist eine sehr unausgewogene Repräsentanz. Auch
die Farbigen sind nicht gut vertreten. Man muss Wege finden, auch den Minderheiten
zu ermöglichen, gewählt zu werden und am Nationalkongress teilzunehmen.“
Das
Regierungsdekret für mehr Bürgerbeteiligung mag so manche Bürgerbewegung, die im vergangenen
Jahr auf die Straße ging, ein wenig besänftigt haben. Insgesamt steht Dilma Roussefs
linke Regierungspartei „Partido dos Trabalhadores“ (PT) in Brasilien beim Volk aber
stark in der Kritik. Unter Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva hatte die Partei
für bemerkenswerte Fortschritte bei der Armutsbekämpfung in Brasilien gesorgt und
rund 30 Prozent der Bevölkerung über die Armutsschwelle gehoben. Dass dieselbe Partei
jetzt in massive Korruption verwickelt sein soll, sei für viele Menschen eine „große
Enttäuschung“, erzählt der Bischof. Er gibt aber auch zu bedenken:
„Die
Korruption ist kein Privileg der Arbeiterpartei, die gab es schon immer und überall.
Nur heute wird sie mehr angezeigt und es wird darüber berichtet.“
Der Eindruck
bleibt bestehen, dass die teuren Stadionbauten für die Fußball-WM in einem krassen
Gegensatz zu den tatsächlichen Notwendigkeiten des breiten Volkes stehen: Ob ungerechtes
Bildungs- oder Gesundheitssystem, das mangelhafte Transportwesen oder die klaffende
Schere zwischen Arm und Reich, viele Missstände sind in Brasilien noch anzugehen.
Die Präsidentschaftswahlen im kommenden Oktober markieren vor diesem Hintergrund einen
Scheideweg für das Land, so der Bischof: Das Volk spüre, dass es jetzt tiefgreifende
Veränderungen braucht, auch in der Liga der politischen Entscheider.
„Wir
treten jetzt in die Phase der politischen Wahlpropaganda ein. Wir alle fragen uns,
was passieren wird, es gibt so viele Unbekannten und Fragen, was das für eine Kampagne
sein wird. Man muss zu wirklichen Reformen kommen, denn die Geduld des Volkes ist
am Ende. Es gibt also das Bewusstsein, dass diese Wahlen wichtig sein werden, nicht
nur für die Gewinner, sei es nun Dilma Roussef oder jemand anderer, sondern vor allem,
um die Leute aufzurütteln, dass es wichtige Veränderungen braucht, weiterführende
Veränderungen, angefangen bei der politischen Reform.“
Auch für das Wahlvolk
hat die Kirche hier eine Botschaft: Der Impuls der Sozialproteste, die vor gut einem
Jahr aufbrachen, sei gut und wichtig gewesen: „Wir brauchen einen Wandel“. Das müsse
sich aber jetzt in ein konstruktives politisches Bewusstsein übersetzen, plädiert
Luiz Demetrio Valentini. Die Kirche wünscht sich hier mehr Unterscheidungsvermögen
des Volkes:
„Es gibt langsam ein neues Bewusstsein, ja, aber man hat noch
nicht die angemessene Form gefunden, dieses Bewusstsein auszudrücken. Die Demonstrationen
des Volkes sind ein sehr bedeutsamer Moment gewesen, um zu zeigen, dass es etwas Wichtiges
zu verändern gibt, ohne Zweifel. Doch diese Demonstrationen haben sofort den Impuls
verloren und viele Ambiguitäten gezeigt. Denn viele Leute benutzen diese Demos, um
ihre Interessen umzusetzen, politisch, die Wahl betreffend.“
Ein Seitenhieb
wohl auf Politiker, die die Proteste für sich vereinnahmen wollen. Doch auch stumpfen
Anarchismus wie das Gerangel der „Black Block“, die Chaos bei den Demonstrationen
stiften, lehnt der Bischof ab. Das Volk dürfe sich weder von der einen noch der anderen
Seite vereinnahmen und spalten lassen. Dieser Wert sozialen Zusammenhaltes sei gerade
auch im Kontext der Fußball-WM sichtbar geworden, die am Sonntag zu Ende geht, merkt
Dom Demetrios an:
„Auch wenn Brasilien nicht im Finale steht, war die WM
eine Bestätigung, was die Identität des brasilianischen Volkes betrifft. Ich denke,
wie die Meisterschaften hier gelaufen sind, lässt nicht nur negative Erinnerungen
zurück. Es gibt einen großen Reichtum, den man jetzt ernten muss, um das brasilianische
Volk, die wichtigen Werte der Volkstradition Brasiliens, wieder zu beleben. Man muss
da besser unterscheiden und sagen: Es gab Fehler (im Kontext der WM, Anm.), doch es
gab auch viele Werte.“