2014-07-09 09:39:30

Bolivien erlaubt Kinderarbeit: Fortschritt oder Rückschritt?


RealAudioMP3 In Bolivien, dem ärmsten Land Südamerikas, wird Kinderarbeit legal. Das entsprechende Gesetz ist umstritten: Den Gegnern scheint es eine Art Kapitulation des Staates, der eigentlich auf den Schulbesuch der Kinder dringen müsste; die Befürworter weisen darauf hin, dass ja gerade ihr Verdienst es vielen Kindern überhaupt erst möglich macht, auch noch zur Schule zu gehen. Markus Zander ist Bolivien-Länderreferent beim katholischen deutschen Hilfswerk Misereor. Er sagte uns in einem Interview:

„Tatsächlich ist es so, dass in Bolivien geschätzte 850.000 Kinder arbeiten müssen, um ihre Familien, ihre Geschwister mitzuversorgen, aber auch, um selbst überhaupt die Möglichkeit zu haben, zum Beispiel Schuldgeld zu bezahlen, Bücher zu bezahlen, Schuluniformen zu bezahlen und ähnliches. Bisher war es allerdings so, dass ein großer Teil dieser Arbeit illegal war. Das hieß aber auch, dass diese arbeitenden Kinder keine Möglichkeit hatten, als Arbeitende Rechte vor Gericht einzufordern.“

Darum waren es nicht zuletzt die Kindergewerkschaften, die nach einer Legalisierung von Kinderarbeit riefen. Etwa 10.000 bolivianische Kinder sind in diesen Gewerkschaften organisiert. Ihr Ziel: aus der Rechtlosigkeit in eine gewisse Rechtssicherheit zu treten. „Insofern macht dieses Gesetz jetzt schon einen Unterschied zu der vorherigen Situation“, urteilt Markus Zander. Zumal das Gesetz auch klare Auflagen benennt.

„Generell wird gesagt, dass Kinder ab 14 Jahren arbeiten können. Und unter bestimmten Bedingungen können Kinder, wie es heißt, ‚selbständig’, also als Schuhputzer, als Süßigkeitenverkäufer oder ähnliches schon ab zehn Jahren arbeiten, ‚unselbständig’ hingegen, also sozusagen als Angestellte, ab zwölf Jahren, wenn ihre Eltern damit einverstanden sind, wenn das Arbeitsministerium darüber informiert ist und wenn die Möglichkeit zum Schulbesuch gegeben wird. Die Höchstarbeitszeit ist auf höchstens sechs Stunden pro Tag festgelegt worden.“

Eine weitere Auflage besteht darin, dass bestimmte Berufe für Kinder pauschal verschlossen bleiben: in den Minen, in der Erntearbeit, an Orten, wo Alkohol ausgeschenkt wird. Das klingt im Grund alles vernünftig, aber Papier ist geduldig – das gilt auch für bolivianische Gesetzestexte.

„Man könnte das Ganze als einen Fortschritt sehen, wenn tatsächlich der bolivianische Staat darauf hinarbeiten würde, für die Zukunft Kinderarbeit unnötig zu machen.“

Dem steht allerdings die Aussage von Präsident Evo Morales entgegen, dass Kinderarbeit das soziale Bewusstsein der arbeitenden Kinder entwickeln helfe.

„Da fragt man sich natürlich, wie das gemeint sein soll und ob das jetzt als etwas Positives gesehen wird, grundsätzlich, dass Kinder arbeiten, oder eben nur als eine Notlösung, die aber eigentlich auf Dauer abgeschafft werden muss!“

Dabei weiß Evo Morales durchaus, wovon er spricht: Der aus einer Indio-Familie stammende Politiker hat selbst schon im Alter von fünf Jahren gearbeitet, als Eisverkäufer. Das hinderte ihn nicht, zum ersten Indio im höchsten Staatsamt aufzusteigen.

„Ja, aber wahrscheinlich nicht, weil er gearbeitet hat, sondern obwohl er arbeiten musste und obwohl er so wenige Möglichkeiten hatte, zur Schule zu gehen!“

„Arbeitsministerium mit Umsetzung des Gesetzes überfordert“

Ein wesentlicher Pferdefuß des neuen Gesetzes besteht laut Zander darin, dass der schwache Andenstaat wohl kaum überprüfen kann, ob sich alle an den neuen Paragraphen halten.

„Man muss eben leider sagen, dass die bolivianischen Institutionen außerordentlich schwach sind. Das Arbeitsministerium müsste eigentlich die Regelung innerhalb dieses Gesetzes überprüfen, ob also Kinder tatsächlich freiwillig arbeiten, mit Genehmigung ihrer Eltern, und auch tatsächlich nur sechs Stunden am Tag und nicht länger, und nicht in Minen oder Bars. Aber das Arbeitsministerium ist finanziell und personell so schlecht ausgestattet, dass es noch nicht einmal im Augenblick in der Lage ist, seinen Aufgaben in Bezug auf die Arbeit von Erwachsenen nachzukommen!“

Die zusätzlichen Aufgaben in Sachen Kinderarbeitsgesetz dürften die Behörde nun „völlig überfordern“, fürchtet der Experte. Zumal auch nichts darauf hindeute, dass sie mit mehr finanziellen Mitteln ausgestattet werde als im Augenblick. Sein Fazit also: Das Gesetz zur Kinderarbeit wäre zu begrüßen, wenn – ja, wenn Bolivien gleichzeitig strukturell etwas dafür tun würde, dass Kinderarbeit künftig überflüssig wird. Und wenn, zweitens, eine penible Kontrolle greifen würde, was die Umsetzung des neuen Gesetzes betrifft.

„Dann wäre das Gesetz im Vergleich zur jetzigen Situation zunächst sicherlich ein Fortschritt. Weil es eben Kinder als Arbeiter mit Rechten ausstatten würde, die diese Kinder dann auch tatsächlich einklagen könnten.“

Übrigens geht es in dem neuen Gesetz nicht nur um Kinderarbeit. Der Ansatz sei umfassender, schildert Markus Zander, Thema sei zum Beispiel auch die Strafverfolgung bei Kindern. Als das Gesetz letztes Jahr an den Start ging, wollte es eigentlich die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren verbieten – so wie das völkerrechtliche Konventionen vorsehen, die auch Bolivien unterschrieben hat. Doch dagegen erhoben sich heftige Proteste der Kindergewerkschaften. Sie demonstrierten unter anderem vor dem Parlament von La Paz, schwenkten Transparente mit der Aufschrift „Recht auf Arbeit!“.

„Daraufhin hat sich der Kongress noch einmal dieses Gesetzes angenommen und dann diese Änderungen angebracht, die tatsächlich auf den Forderungen der Kinder beruhen. Wem dieses Gesetz in die Hände spielen wird, ist noch einmal eine andere Frage – denn wenn der Staat nicht in der Lage ist, diese Regelungen durchzusetzen, werden sich bestimmte Arbeitgeber bestätigt fühlen, bei denen Kinder unter schlechten Bedingungen arbeiten müssen. Und das ist natürlich eine ganz große Gefahr.“

(rv 08.07.2014 sk)








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