2014-06-17 11:18:59

Ukraine: „Bevölkerung unter Schock“


RealAudioMP3 Eine böse Überraschung für die Ukraine: Russland hat am Montag den Gashahn zugedreht. Davon könnte im kommenden Winter auch Westeuropa betroffen sein. Die sich überschlagenden Ereignisse in der Ukraine – der russische Krim-Einmarsch, die Separatisten-Kämpfe im Osten, zuletzt der Flugzeug-Abschuss und der Gasstreit – haben bei der Bevölkerung zu einem „Schockzustand“ geführt: Das sagte der ukrainische Redemptoristen-Provinzial Ihor Kolisnyk im Gespräch mit der Nachrichtenagentur „Kathpress“.

„Die Menschen haben sich fast daran gewöhnt, dass es immer schlimmer kommt und dass sich Russland durch seine Unterstützung der Guerilla-Gruppen immer mehr einmischt.“

Die Ukraine habe es aus seiner Sicht selbst in der Hand, die Krise politisch zu lösen und die Invasion abzuschütteln, „indem sie geschlossen auftritt und den Wunsch aller im Land nach Gerechtigkeit umsetzt.“ Die Zeit dafür werde allerdings knapp, so der ukrainische Ordensmann. Putin betreibe mit Nachdruck eine Destabilisierung der Ukraine, um seinem eigenen Land zu beweisen, „dass Demokratie Anarchie ist und nur Leiden und Probleme bringt - wäre doch ein Aufstand der Menschen für sein Regime brandgefährlich.“

Inmitten eines „Moments der Freude“ für die Ukraine nach den Maidan-Protesten sei der russische Krim-Einmarsch Ende Februar ohne Vorwarnung geschehen – „wie ein Stoß von hinten mit dem Messer“, betonte Kolisnyk. Die anhaltenden Kämpfe der Separatisten im Osten des Landes hätten, anders als von russischer Seite behauptet, nirgendwo großen Zuspruch der Bevölkerung.

„Auch im Osten sehen sich die Leute nicht Russland zugehörig, sondern wollen einfach nur Frieden. Sie sind jedoch nicht dazu bereit, die Separatisten zu vertreiben - sondern sitzen und warten ab, was geschieht.“

Ungleicher Kampf
Für eine weitere Zuspitzung der Krise sorge aber auch die ukrainische Politik selbst, an deren „unverständlichen Maßnahmen“ im Kampf gegen die Separatisten der Ordensgeistliche scharfe Kritik übt. Dass man etwa mit dem am Wochenende abgeschossenen Flugzeug den von Separatisten angegriffenen Flughafen Luhansk anfliegen wollte – 49 Militärs kamen beim Absturz ums Leben –, sei „ein Verbrechen“, gewesen. Falsche Entscheidungen seien Folge vieler politischer Fehlbesetzungen, die auch unter dem neuen Präsidenten Petro Poroschenko andauern dürften, denn „viele aus der alten Schule sind mit ihm wieder in die Politik eingezogen“.

Ohne einschneidende Systemänderungen drohten erneut interne Spannungen bis hin zu einem „politischen Erdbeben“, warnt Kolisnyk. In der Westukraine gebe es dafür bereits Vorzeichen, „Mütter protestieren dagegen, dass man ihre Söhne zum Sterben in den Osten schickt“. Junge, unerfahrene Soldaten würden von der Militärführung im Kampf eingesetzt gegen die ungleich besser ausgebildeten und auch ausgerüsteten Separatisten, „von denen viele Tschetschenen sind, die schon zwei Kriege gegen Russland geführt haben und nun für Russland gegen die Ukraine kämpfen“. Hingegen hätten viele der ukrainischen Soldaten nicht einmal Schutzwesten, so der Redemptorist.

Knackpunkt politischer Klimawandel
Was die Ukraine einigen und stark machen würde, wäre nach Ansicht des Priesters die Umsetzung eines innenpolitischen Klimawandels, für den schon die Orangene Revolution und zuletzt die Maidan-Proteste eingetreten seien. Die Missstände seien offenkundig, habe die Ukraine doch in den vergangenen zwanzig Jahren sieben Millionen Einwohner verloren – „die Menschen sterben, wollen den Status quo nicht mehr länger hinnehmen“. Die Revolution von 2004/05 sei ein „euphorischer Moment der Freude“ mit großen Hoffnungen gewesen, der Weg seither aber eine bittere Schule:

„Glaubte man damals, die neuen Spitzen könnten nicht versagen, so war die Ära Janukowitsch dennoch nur eine Fortsetzung des seit der Sowjetzeit ungerechten politischen Systems.“

Geblieben sei von damals eine Portion Demut: „die Erfahrung, dass nichts von selbst läuft, dass sich niemand zurücklehnen und auf den Staat warten darf“. Selbst die den Kirchen fernstehenden Menschen hätten verstanden, „dass vieles auch Gottes Hilfe braucht“, auch durch die aktive Präsenz vieler Christen und Kirchenvertreter aller Konfessionen bei den Maidan-Protesten. Diese seien eine „Revolution der Würde“ gewesen, getragen vom Bewusstsein „würdiger Menschen, die von unten anfangen wollen, gerecht zu sein. Die Wirtschaft soll uns nicht mehr dazu zwingen, dass wir uns anderen gegenüber wie Wölfe verhalten“, so der Priester, dessen Orden in der Ukraine der mit Rom unierten griechisch-katholischen Kirche angehört.

Not überwindet Gräben
Das starke Verlangen nach Gerechtigkeit und Überwindung der Korruption auf allen Ebenen sei ein „fundamentales Konzept“, das die gesamte Ukraine vereine, betonte Kolisnyk, „auch wenn die Mentalität, die Sprachgruppen, die politische Gewichtung, die Betrachtung der Geschichte und kirchlichen Strukturen in den Landesteilen verschieden sind“. Die russische Invasion habe die Gläubigen des Landes zudem dazu gebracht, über konfessionelle Gräben zu steigen.

„Sie sagen: Wir sind alle Christen, in der Tradition des heiligen Wladimir aufgewachsen, und eine Gemeinschaft, die, wenn sie auch geteilt ist, für ihre Neuentwicklung kämpfen muss.“

Dies werde auch von den verschiedenen Kirchen vertreten: „Auch wenn sie aus historischen Gründen nicht mit einer Stimme sprechen können, ist die Botschaft dieselbe“, so der Ordensmann. Speziell hob er die Haltung der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats hervor, die seit den Maidan-Protesten eine selbstständige, von der russisch-orthodoxen Kirche abweichende Position entwickelt habe – „trotz des Drängen Moskaus nach Einheit, egal was passiert“. Die Priester und Bischöfe spürten, „dass sie nicht gegen die Menschen, gegen Gerechtigkeit und gegen das Evangelium ankämpfen dürfen, indem sie das Unrecht der russischen Ukraine-Politik gutheißen“.

(kap 17.06.2014 mg)







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