Täglich berichten
Medien mittlerweile über die vor etwa zehn Jahren gegründete islamistische Gruppe
Boko Haram: Sie kämpft im mehrheitlich muslimischen Norden Nigerias für einen islamistischen
Staat und verübt seit etwa fünf Jahren immer wieder Bombenanschläge, Attentate und
Entführungen, die das bevölkerungsreichste Land Afrikas in Angst und Schrecken versetzen.
Internationale Aufmerksamkeit erhält die Terror-Sekte, seit sie Mitte April mehr als
200 Schülerinnen aus einem Internat im Bundesstaat Borno entführte.
Der in
Wien lebende 52-jährige Regisseur und Journalist Peter Kullmann aus Mainz/Rhein ist
während der Recherche und Dreharbeiten zur Dokumentation „Gottes Krieger, Gottes Feinde“
im letzten Jahr der Terror-Sekte so nahe gekommen wie kaum jemand. In einem Interview
mit Radio Vatikan erzählt er von seinen Eindrücken.
Sie waren für mehr
als 6 Monate in Nigeria, um herauszufinden, wo die Wiege von Boko Haram ist. Was war
ihr allgemeiner Eindruck vor Ort? Sind die Menschen dort in einer Religionskrise?
„Das sind Menschen wie du und ich auch. Die haben Ängste wie wir. Sie fürchten
sich vor der Gewalt, die dort herrscht. Sie haben Angst, dass sie benachteiligt werden,
und das gilt für beide Seiten, für Christen wie auch für Muslime. Keiner von beiden
bekennt sich zu Boko Haram. Das heißt, dass ein Muslim nicht gleich ein terroristischer
Islamist ist.“
In den Medien wird sehr viel berichtet. Kaum ein westlicher
Journalist kann sich jedoch in Nigeria frei bewegen. Selbst die Journalisten der Nachrichtenagenturen
haben Reiseverbot in den hauptsächlich muslimischen Norden. Sie hingegen waren genau
dort unterwegs...
„Ich war mehrfach im Norden, im Bundesstaat Borno, dessen
Hauptstadt Maiduguri die Heimstätte von Boko Haram ist. Ich war zeitweise inkognito
vor Ort, und erst als die Sicherheitsbehörden auf mich aufmerksam geworden sind, ging
der Ärger los. Die Hürde, die es für mich zu überwinden galt, waren die staatlichen
Behörden, die alles daran setzten, dass westliche Journalisten nicht in das Gebiet
können, um von dort zu berichten. Man darf davon ausgehen, dass die gewalttätigen
Übergriffe, die Menschenrechtsverletzungen von Teilen der Sicherheitskräfte und der
Behörden fast genauso groß und fast genauso schlimm sind wie der Terror, von dem wir
in den Nachrichten hören. Nur: Von den Folterungen und willkürlichen Verhaftungen
und Hinrichtungen hören wir hier im Westen sehr wenig."
In aktuellen Berichterstattungen
liest man immer wieder davon, dass die Sicherheitskräfte und die Armee korrupt seien
und mit Boko Haram zusammenarbeiteten. Können Sie dem etwas abgewinnen?
„Die
Sicherheitskräfte wie fast sämtliche staatlichen Organisationen – dafür habe ich Belege
– sind unterwandert von Boko Haram-Sympathisanten oder vielleicht sogar von Boko Haram-Kämpfern.
Im Staatsapparat, in Ministerien und in Behörden sitzen Leute, die zumindest mit Boko
Haram sympathisieren. Das zeigt natürlich auch, wie schwer die Bekämpfung der Terrorgruppe
ist, wenn man sich dabei lediglich auf militärische oder polizeiliche Maßnahmen stützt.“
„Nicht
jeder Boko Haram-Sympathisant ist automatisch ein Terrorist“
Wie ist
es zu einem ersten Treffen mit Boko Haram gekommen?
„Über das Zustandekommen
der mehreren Treffen kann ich naturgemäß nur bedingt sprechen. Zum einen habe ich
mich zur Verschwiegenheit verpflichtet und davon hängt auch das Leben meiner Mitarbeiter
in Nigeria ab, dieses Schweigen nicht zu brechen. Ich kann nur sagen, dass mein erstes
Treffen mit Boko Haram ein äußerst unangenehmes war. Denn es war ein Überfall, nur
wenige hundert Meter entfernt vom zerstörten ehemaligen Wohnhaus des Gründers von
Boko Haram Mohamed Yusuf. (Anm. Red.: Nach der Tötung des Gründers Mohammed Yusuf
im Jahre 2009 übernahm Abubakar Mohammed Shekau die Führung der Gruppe.) Ich war
dort mit nigerianischen Kollegen für Dreharbeiten. Das hat auch alles gut geklappt.
Bis wir dann fast schon draußen waren aus der auch vom Militär zur No-Go-Area deklarierten
Zone, und dann wurden wir überfallen. Plötzlich standen vermummte, bewaffnete Männer
vor uns. Wir lagen am Boden. Die Sache wurde apokalyptisch. Wir dachten, dass wir
da nicht mehr heil rauskommen.“
Durch genau diesen Überfall sind zwar Ihre
Dreharbeiten zum Erliegen gekommen, aber durch diesen Kontakt ist es Ihnen über Umwege
gelungen, nach Wochen und Monaten ein Interview mit zwei Boko Haram-Mitgliedern zu
führen. Was waren hier die Fragen, die Antworten?
„Wie weit geht ihr, ihr
persönlich mit euren Aktionen für Boko Haram? Tötet ihr? Mordet ihr? Schmeißt ihr
Bomben? Entführt ihr? Da waren die Antworten nicht eindeutig und trotzdem sehr aussagekräftig.
Und dann ging es um die Ideologie dahinter. Warum tun Sie das? Sie persönlich und
Boko Haram. Warum morden Sie Menschen – und da sind die Aussagen ganz eindeutig, von
‚Der Koran und Gott befiehlt uns, gegen alle Ketzer vorzugehen und sie zu töten‘,
bis ‚Ich kann alle Menschen töten und bin trotzdem kein schlechter Muslim‘. Es mangelte
nicht an Rechtfertigungen für das Morden. Eine Begründung war auch, wir werden genauso
verfolgt, und die Christen töten auch Muslime.“
„Wären wir hier, um dich
zu töten, dann wärst du längst tot“, so ein Boko Haram Kämpfer in Ihrer Dokumentation.
Das demonstriert eine gewisse Taktik. Welchen Eindruck hatten Sie von den jungen Männern,
mit denen Sie gesprochen haben? Woher, denken Sie, kommt diese Wut, der Hass?
„Diese
Leute, die ich kennengelernt habe, waren keine ungebildeten Menschen; die hatten,
das weiß ich, für dortige Verhältnisse eine sehr gute, sogar eine akademische Ausbildung.
Ich kann natürlich nicht beurteilen, inwiefern ihre Familien von Konflikten mit Christen
betroffen waren, was zu Hass hätte führen können. Aber diese Menschen, die mir gegenüber
sehr ruhig und höflich waren, würde ich als ideologisch vollkommen verblendet bezeichnen.
Alles, was sie von sich gegeben haben, ist mit Sicherheit so von ihrer Religion nicht
gedeckt.“
Der UN-Sicherheitsrat stuft Boko Haram als Terrororganisation
ein. In dieser Woche wurden wieder zwanzig junge Frauen entführt, in derselben Gegend
bei Chibok wie die mehr als 200 Schülerinnen, die noch immer verschwunden sind. Man
kann derzeit die Todeszahlen nur schätzen. Was man aber weiß, ist, dass diese Zahlen
steigen. Was wäre notwendig, um dem ein Ende zu bereiten?
„Man muss trennen
zwischen dem harten Kern der Boko Haram und der weitaus größeren Gruppen der Mitläufer
und Sympathisanten. Diese Menschen orientieren sich an ihren eigenen Lebensbedingungen,
wenn es darum geht, wen unterstützen wir. Etwa den Staat, die Regierung oder die Behörden
und die freie Gesellschaft... oder eben Boko Haram. Boko Haram bietet eben die Alternative
zu dem oft sehr tristen und aussichtslosen Alltag in Nigeria in Form einer streng
gelebten Religion. Was man akut machen kann, um 200 Mädchen zu befreien oder das Töten
zu stoppen, kann ich auch nicht sagen. Aber ich denke, man müsste mit Boko Hara wie
mit jeder anderen terroristischen Gruppe umgehen - entweder sie bekehren oder sie
bekämpfen. Nicht jeder, der mit Boko Haram sympathisiert, ist auch automatisch ein
Terrorist oder ein Mörder. Er könnte es werden, wenn sich die Gewaltspirale weiterdreht;
dann könnte es sein, dass noch mehr Leuten zu den Waffen greifen.“