Die Dschihadisten
im Irak gewinnen an Terrain – und das ist die Folge verfehlter irakischer Politik
der vergangenen zehn Jahre. So lautet die Einschätzung des französischen Fachmanns
für bewaffnete Konflikte und strategische Beziehungen, Gerard Chaliand. Der schiitisch
geprägten Regierung werde jetzt die Rechnung für zehn Jahre Gängelung der Sunniten
präsentiert, erklärte Chaliand im Gespräch mit Radio Vatikan.
„Dieser Krieg
im Irak hat seit 2003 nie aufgehört. Was man damals Terrorismus nannte (es war im
wesentlichen sunnitisch), richtete sich gegen die amerikanische Besatzung, denn das
neue Regime war ein schiitisches Regime. 60 Prozent der Bevölkerung im Irak sind Schiiten.
Es kam also zu einer absoluten Unterdrückung der sunnitischen Minderheit, die 20 Prozent
der Bevölkerung stellt. Und seit drei Jahren gibt es [mit dem Abzug der US-Truppen,
Anm.] den Aufstand aller Sunniten, radikal oder gemäßigt, gegen das alawitische Regime,
das mit dem Iran und mit Assad in Syrien paktiert. Wir haben es hier also mit einer
Konstellation zu tun, in der Iran, Irak und Syrien enge Verbündete sind. Zuletzt haben
die aufständischen Sunniten in Samara und anderen Städten Präsenz gezeigt. Sie wurden
geschlagen. Die Armee hat reagiert, und jetzt eben haben sie Mossul attackiert.“
Mossul
ist die zweitgrößte Stadt des Irak, nahe an der Grenze zu Syrien. Die irakische Regierung
müsse jetzt Stärke zeigen und eine Gegenoffensive in Mossul starten, um die Aufständischen
zu verdrängen, sagt Chaliand. Seiner Einschätzung nach kann das gelingen.
„Die
Armee hat eine ganz gute Ausbildung unter den US-Amerikanern erhalten, und sie ist
gut bewaffnet. Ihr Motivationsgrad wird auch davon abhängen, welchem Bevölkerungsteil
die Soldaten angehören, aber wir wissen, dass von den Offizieren und den Soldaten
die große Mehrheit Schiiten sind. Gelingt es aber Präsident Maliki nicht, die Terroristen
aus Mossul zu vertreiben, ist das der Anfang vom Zerfall der Regierungsmacht und der
Schiiten im Irak. Überhaupt zeigen die Vorfälle, dass die Erosion des schiitischen
Systems eingesetzt hat und dass dieser Prozess im Gleichschritt mit den Entwicklungen
in Syrien geht.“
Präsident Nuri Al-Maliki steht aus Sicht des Fachmanns
politisch einigermaßen isoliert da. Sogar innerhalb der schiitischen Bewegung sei
er nicht unumstritten.
„Er könnte versuchen, eine Einheitsregierung mit
allen Schiiten zu machen, einschließlich Leuten wie Moqtada Al-Sadr und anderen, und
ich weiß nicht, ob er er dazu bereit ist. Jedenfalls wird die Lage immer angespannter.
Und Sicherheit wird im Irak die Hauptfrage.“