2014-05-06 12:13:59

Nigeria nach der Entführung der Mädchen: Eskalation und Mitleid


An diesem Mittwoch beginnt in Nigeria die Tagung des World Economic Forum on Africa. Es geht dabei um die wirtschaftliche Zukunft des Kontinents. Aber derzeit haben die Menschen in Abuja ganz andere Sorgen: Vor über zwei Wochen wurden 200 Schulmädchen entführt, bis heute weiß man nicht, wo sie hingebracht wurden, einige sind wohl bereits außerhalb des Landes verkauft worden. Außerdem erreicht der Bombenterror von Boko Haram auch wieder die Hauptstadt: Nur einen Tag vor der Entführung der Mädchen starben 88 Menschen bei einem Anschlag auf einen Busbahnhof in der Hauptstadt. RealAudioMP3


Mathias Kamp ist Leiter der Dialog- und Verbindungsstelle von Misereor in Nigeria. Er berichtet von der Schwierigkeit, exakte Nachrichten zu erhalten, auch über zwei Wochen nach der Massenentführung. Die Zahlen seien lange unklar gewesen, mittlerweile gehe man von 273 jungen Frauen aus, sagt er im Gespräch mit Radio Vatikan. 43 hätten entkommen können. Boko Haram hat sich mehrfach öffentlich – zuletzt mit einem Bekennervideo an diesem Montag – zu den Entführungen bekannt.

Auch was mit den Mädchen geschehen sei, ist noch nicht wirklich klar. Mehr als ein Gerücht sei es, dass einige von ihnen in die Nachbarländer geschafft wurden, in den Tschad und nach Kamerun, und dass sie dort wohl für umgerechnet neun Euro in Zwangsehen verkauft wurden. Man könne außerdem aus der Erfahrung der Vergangenheit davon ausgehen, dass viele Boko-Haram-Kämpfer sich diese Mädchen zu Frauen nähmen. „Das ist im Grunde eine Form von Sex-Sklaverei“, sagt Kamp.

Neue Eskalationsstufe, neue Stufe von Mitleid

Die Öffentlichkeit des Landes habe erst mit Verzögerung auf diesen Fall von Massenentführung reagiert, dann aber habe die Aufmerksamkeit – untypisch für die Medien des Landes – nicht mehr nachgelassen. „Am Anfang gab es die Nachricht von dieser Entführung, das Ganze ging aber parallel mit der Nachricht vom Bombenanschlag in der Nähe von Abuja, der am Tag vorher stattgefunden hatte, hier vermischten sich die Nachrichten über die verschiedenen Dimensionen des Terrors von Boko Haram.“ Es habe seitdem viel internationale Solidarität gegeben, und prominente Nigerianer aus allen Sphären der Gesellschaft äußerten sich immer wieder dazu. Auch spielten die elektronischen Medien wie Twitter eine große Rolle bei der Aufrechterhaltung des Interesses. „Das hat dazu geführt, dass das Thema in den Medien nun dauerhaft präsent ist.“

Eine neue Eskalationsstufe der Gewalt sei erreicht, „aber auch eine neue Ebene des Mitgefühls“, schätzt Länderexperte Kamp die Reaktion ein. Man sei Nachrichten von Tod, Gewalt, Bomben und Militär gewöhnt, „aber jetzt hat man einen Fall, wo man mit den Mädchen mitzittert, man fühlt mit den Familien und man fühlt mit den Mädchen, weil ja nach wie vor diese Ungewissheit herrscht.“ Da geschehe viel auf der emotionalen Ebene, anders als früher.

Warum bekommt man diese Krise nicht in den Griff?

In der Krise kämen sehr viele verschiedene Dimensionen zusammen, was es sehr schwierig mache, den Konflikt überhaupt zu verstehen. „Wer ist überhaupt Boko Haram, wofür steht Boko Haram, gibt es diese eine gut organisierte Gruppe Boko Haram, oder sind das mehrere Zellen? Und: Geht es wirklich noch um die Einführung der Scharia und den Kampf für die Rechte der Muslime im als benachteiligt empfundenen Norden, oder hat das nicht schon eine ganz eigene Dynamik entwickelt? Die Indizien sprechen eher für Letzteres,“ analysiert Misereor-Mitarbeiter Kamp. Es sei auf jeden Fall eine sehr unsouveräne und inkonsequente Reaktion der Regierung zu beobachten, für die sie auch stark kritisiert werde. Die Politik habe auch in der Kommunikation einen Fehler nach dem anderen begangen, der Präsident habe sich erst gar nicht geäußert, und dann habe seine Frau die für die Mädchen demonstrierenden Mütter verurteilt: „Man empfindet hier die politische Klasse als unsensibel und im Grunde unverantwortlich, was den Umgang mit der Krise betrifft.“

Ein weiteres Problem sei der Umgang des Militärs mit der Krise: „Obwohl seit einem Jahr Ausnahmezustand herrscht, das Militär im Nordosten des Landes vorgeht und es viele blutige Gefechte gibt, kann man trotz allem nicht erkennen, dass Boko Haram signifikant geschwächt ist.“ Stattdessen nähmen die Angriffe und Anschläge zu.

Bis zu ein Viertel des Staatshaushaltes wird mittlerweile laut offiziellen Zahlen – inoffiziell könnte das noch mehr sein – für den Kampf gegen den Terror ausgegeben. Das komme aber nicht vor Ort an, weiß Kamp zu berichten: „Unsere Partner vor Ort, die mit den Soldaten sprechen, berichten von der Frustration der Soldaten, die schlecht ausgebildet und ausgestattet sind. Die Frage ist also, wo die ganzen Milliarden hin fließen, wenn sie denn nicht vor Ort eingesetzt werden.“ Da stehen die staatlichen und militärischen Stellen am Pranger; es gebe viele Klagen im Land, dass vor allem Militärs die Krise zur eigenen Bereicherung nutzen, und um die politische Rolle des Militärs zu stärken.

Die Lösung liegt bei der politischen Klasse des Landes

Dass jetzt mit einer internationalen Konferenz mehr Scheinwerferlicht auf die Situation des Landes geworfen wird, sei eher kein neuer Anstoß für eine Lösung des Konfliktes, meint Kamp. „Nigeria ist durch die Öleinnahmen relativ unabhängig und offiziell die stärkste Wirtschaftsmacht auf dem afrikanischen Kontinent. Man hat ein hohes Selbstbewusstsein, und die politische Klasse ist sehr gefestigt und bedient sich fleißig bei den Geldern, die aus den Ölressourcen kommen. Ich glaube, da darf man die internationale Dimension nicht überbewerten.“

„Ich glaube, dass es primär darum geht, dass die Nigerianer und die nigerianische politische Klasse sich den Herausforderungen stellt und Antworten findet,“ sagt Kamp. Eine Möglichkeit dazu sei eine große Nationalkonferenz, die das Land veranstalte, „da kommen 500 Menschen zusammen, um die großen Fragen Nigerias zu klären.“ Einheit, Stabilität und bessere Verteilung des Wohlstandes seien die wichtigsten Themen dabei. „Da gibt es Hoffnung, dass sich grundsätzliche Veränderungen in der politischen Landschaft und politischen Kultur ergeben. Inwieweit sich die politische Elite darauf einlässt oder das blockiert, das bleibt abzuwarten.“

Welche Perspektive hat das Land?

Im Augenblick sehe es allerdings konkret eher nach einer Zunahme der Gewalt aus, schätzt Mathias Kamp die Lage in Nigeria ein, schließlich sei da eine Terrorgruppe am Werk „Die Boko-Haram-Krise bezieht sich ja nicht auf Gewalt, die zwischen Muslimen und Christen an sich stattfindet. Die Frage ist jetzt, wie sich dieser Terrorismus langfristig auswirkt.“ Vor Ort wachse das Misstrauen, wo Muslime und Christen zusammen lebten; die Frustration steige, und dadurch könne sich ein erhöhtes Konfliktrisiko ergeben, auch zwischen den religiösen Gemeinschaften.

„Im Moment gibt es viele Bestrebungen, den Dialog nicht abbrechen zu lassen. Katholische Bischöfe treffen sich mit Sultanen und Imamen, es gibt diverse Initiativen auf allen Ebenen, weiter den Dialog zu führen und Christen und Muslime zusammen zu bringen, und man sagt, dass man es nicht erlauben dürfe, dass der Terror von Boko Haram uns entzweit.“ Der Terror fordere unter den Muslimen mehr Opfer als unter den Christen, hier müsse man klarstellen, dass es keinen Krieg von Muslimen gegen Christen gebe. Vielmehr habe man es mit Terror zu tun und politischen Faktoren.

(rv 06.05.2014 ord)












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