Menschen in der Zeit: Adolf Muschg, Schriftsteller, Erzähler, Philosoph
Der Schweizer Schriftsteller
und Literaturwissenschaftler Adolph Muschg gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen
Erzählern der Gegenwart. Er gilt neben Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt zu den
bekanntesten Autoren der Eidgenossenschaft. Er wird auch als Meister der knappen Erzählform
bezeichnet. Der bei Emil Steiger promovierte Germanist und Philosoph Muschg wird im
Mai diesen Jahres 80 Jahre alt.
Herr Professor Muschg, ich komme mit meinen
Fragen wohl kaum in eine angemessene Nähe ihres reichen Lebenswerkes, aber das sind
sie wahrscheinliche gewohnt. Schließlich waren auch Sie einmal im journalistischen
Bereich tätig und wissen, dass man in 15 Minuten vieles, aber nicht alles sagen kann.
Apropos Fragen, Herr Muschg, im richtigen Moment die richtigen Fragen zu stellen,
das ist ohnehin eine hohe Kunst. Sie haben sich in ihrem Opus Magnum, „Der rote Ritter,”
mit dieser Urfrage im Gralsgeschehens Parzivals auseinandergesetzt. Im rechten Augenblick,
die richtige Frage zu stellen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist ja unzählige
Male gestellt worden. Es hat auch auf diese Frage unzählige Antworten gegeben. Stelle
ich jetzt diese Frage an Adolf Muschg im richtigen Moment?
„Das wird sich
herausstellen. Das weiß man immer erst hinterher. Ich glaube die wichtigsten Fragen
erkennt man ohnehin daran, dass sie nicht zu Antworten führen, sondern zu größeren
Fragen. Ich habe in Japan gelernt, dass man große Fragen eigentlich nur mit seinem
Leben und nicht mit dem Mund beantworten kann. Also, die richtigste Antwort ist die
falsche, wenn die der falsche Mensch gibt oder wenn er sie in einer Situation gibt,
die im gewissen Sinne, im tiefsten Sinne, nicht die wahre ist. Also eigentlich sind
die wortlosen Dinge, das wissen wir zwischen Menschen, sind die entscheidenden, wenn
diese Resonanz des Schweigens fehlt, dann nützen alle Worte nichts und vor allem die
schönen Worte nichts. Das Pech des Schriftstellers ist nur, dass er Worte machen muss.
Ei n paradoxes Projekt hat mit vielen Worten nichts zu sagen, sondern sich der offenen
Stelle zu nähern, die durch keine Frage berührt werden kann.“
Der Intellekt
und die Phantasie sind Voraussetzungen für ein allgemein gültiges Meisterwerk des
geistigen Schaffens . Herr Muschg, muss diesem existenziellen Dualismus noch eine
weitere Gabe oder Begabung hinzugefügt werden?
„Wenn man sie hinzufügen
könnte! Wissen Sie: Ein bisschen Gnade muss ja auch dabei sein, das kann man auch
ein bisschen kleiner ausdrücken: Ein bisschen Glück. Also der Glücksfall ist das,
was die Griechen ‚Kairos’ genannt haben. Das ist unentbehrlich und wie gesagt: die
richtige Frage im falschen Augenblick ist auch die falsche Frage. Ich habe ein wunderbares
Zitat Schillers zu diesem Problem, von dem wir reden. Das ist ein schlichter Vers,
der nur durch seine Betonung wirkt. Die Frage ist: Warum kann der lebendige Geist
im Geist nicht so scheinen? – und nun kommt die entscheidende Stelle – „ Spricht die
Seele, spricht ach schon die Seele nicht mehr”. Nur die Betonung des Pentameters macht
im Grunde, zeigt im Grunde das Paradox des Sagens.“
Mit zwei großen Autoren
der Vergangenheit setzt sich der Literat, Gelehrte und Wissenschaftler Adolf Muschg
immer wieder auseinander, nämlich mit Gottfried Keller und mit Johann Wolfgang von
Goethe. Es heißt, wenn Sie, Herr Muschg, von dem einen oder dem anderen sprechen,
sprechen Sie auch von sich selbst. Wo läuft hier der rote Faden zusammen?
„Diesen
Satz darf ich mir nicht zu eigen machen. Er wäre eine ungeheure Anmaßung. Natürlich
besteht der Reiz und die Gnade großer Dichtung darin, dass sich der Leser wiedererkennt.
Aber das trifft nicht nur auf mich zu, erstens und zweitens, er erkennt etwas von
sich wieder, was ihm vorher und ohne diesen Text ohne Keller, ohne Goethe nicht bekannt
gewesen wäre. Und auch da liegt es am Wie und nicht am Was. Also, das Wie ist wirklich
das Entscheidende und nicht Inhalte, das was die moderne Computerkommunikation „content”
nennt, das ist gewissermaßen das Entbehrlichste an der Sache. Aber wie Goethe schon
gesagt hat, um ihn gleich zu zitieren: Die Form ist es eigentlich und die Form ist,
sagt er, ein Geheimnis den Meisten.“
Alle große Kunst, Dichtung, Musik,
Malerei hat immer auch einen transzendentalen Charakter. Künstler, wie Sie, sind
Seismographen der Wahrnehmung von Tatsachen und Widersprüchen in der Welt. Meine Frage
jetzt: Sind Dante, Bach, Mozart, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Goethe, Shakespeare
denkbar ohne diese Transzendenz? Und wie würde eine atheistische Entsprechung zu diesen
großen Geistern und Denkern eigentlich lauten?
„Ich wage den kühnen Satz,
dass Sie zwischen der religiösen Dimension und dem Atheismus in der ganz großen Kunst
nicht mehr unterscheiden müssen, weil der gemeinsame Fluchtpunkt, die gemeinsame Essenz
das Spiel ist. Um noch einmal Schiller zu zitieren: “Der Mensch sei nur da ganz Mensch,
wo er spiele.” Dieses Spiel ist etwas sehr Ernstes. Goethe hat seinen eigenen Faust
am Schluss diesen einen “ sehr ernsten Scherz” genannt und ich denke auch bei Gottfried
Keller – der ein explizit nicht religiöser, nicht theistischer Mensch war, der seinem
Gott abgesagt hatte , weil er glaubte, er könne Gott am besten dadurch dienen, dass
er sein Werk liebe, also der Schöpfung nahe sei, sich auch mit dem Tod, mit dem eigenen
Ende versöhnen. Diese Abwendung vom Bösen, also vom scheinbaren Ernst in das scheinbare
Spiel. Das ist für mich das Entscheidende an der Dichtung. Eine Predigt oder ein erbaulicher
Text ist etwas ganz anderes. Da kann man versuchen das Geheimnis unmittelbar anzusprechen.
Das muss es dann offen lassen. Und in derselben Situation dreht sich der Künstler
sozusagen um und beschäftigt sich nur mit seinem Spielzeug, mit der Gewissheit, dass
dieses Spielzeug von Gott ist.“
Scheinbarer Themenwechsel: Es gibt einen
UNO-Konvention, die die Menschenrechte, die Menschenwürde universal schützen sollen.
Doch wird dieses Recht immer wieder in eklatanter Weise gebrochen, zur Zeit zum Beispiel
in Somalia, in Nigeria, in Nordkorea und so weiter. Was, Herr Muschg, ist eigentlich
die Menschenwürde? Liegt der Ursprung dieses Begriffes nicht in der Religion? War
es nicht Jesus Christus der die Menschenwürde kompromissloser sanktionierte, als es
je vorher und nachher geschehen ist?
„Ja darauf sollte ich einem Mann von
Radio Vatikan nicht ketzerisch antworten müssen. Aber die ketzerische Frage, meine
ich, würde lauten: Ist die Religion nicht ebenso so lange und eben so oft leider ein
Hindernis für diese Menschenwürde gewesen? Das erleben wir heute in anderen monotheistischen
Religionen, die uns Angst machen, aber uns auch an eine Zeit erinnert, in der unsere
Kirche, die eigene Kirche, einen anderen Begriff, einen nicht jesuanischen Begriff
der Menschenwürde hatte, ein autoritäres System war, die Seelen unterwarf. Übrigens
im Mittelalter durchaus im Gegensatz zum damals toleranten Islam und ich gebe Ihnen
Recht: der Kern des Evangeliums ist genau das, wovon wir reden und eigentlich nicht
reden sollten. Aber die Feindesliebe ist eine so übermenschliche Forderung, dass wir
nur an ihrer Ungeheuerlichkeit und an ihrem Paradox so zusagen den göttlichen Kern
wahrnehmen müssen und auch eingestehen müssen, dass wir vor diesem Maß nie genügend
nachdenken, auch die Kirche nicht. Der gegenwärtige Papst ist für mich ein wunderbares
Beispiel eines Mannes an der Spitze, der weiß, dass die Spitze die Tiefe der Demut
bedeutet.”
Viele ihrer Texte, Herr Muschg, handeln von der Liebe. Von der
Liebe zwischen zwei Menschen. Es sind also Liebesgeschichte. Vom individuelle, also
jetzt auf die Allgemeinheit übertragen, nämlich eines der Hauptgebote der Christenheit
lautet ja: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ist dieser Anspruch nicht eine Überforderung
an die Menschliche Beschaffenheit?
„Der letzte Anspruch ist paradoxer Weise
vielleicht die geringste Überforderung. Uns selbst lieben, das tun wir ja nur zu
sehr. Die Forderung des anderen so zu lieben wie uns selbst, ist die Zumutung und
dass wir dabei nicht selbstgerecht verfahren dürfen, das lehrt uns das Evangelium
auch wenn Sie an das Gleichnis von der Sünderin im Hause des Pharisäers denken. Es
war ja kein Gleichnis, sondern da hat Jesus den ungeheuren Satz gesagt, in der deutschen
Übersetzung, die mir zugänglich ist, ihr ist viel vergeben, sie hat viel geliebt.
Das ist von einer Sünderin gesagt. Und wem viel zu vergeben ist, ist Gott gewissermaßen
näher, als derjenige, der sein ganzes Leben lang gewissermaßen eine Sparkasse bei
Gott angelegt hat. Auch eine Sparkasse des Lebens und glaubt, sie bringe ihm dann
unendliche Zinsen.“
Die Bibel ist das meistgelesene Buch der Geschichte.
Auch für Goethe war die Bibel ein Buch der Poesie, die Quelle einer beeindruckenden
Sprache. Welchen Stellenwert nimmt das Buch der Bücher bei Adolf Muschg ein?
„Ja,
wenn ich einen Augenblick über Goethe reden darf, hat er seine Mühe mit dem Neuen
Testament gehabt. Sein Feld war das Alte Testament, die gewaltigen Erzählungen der
Patriarchen, bei denen er sich immer wieder erholt hat. Er wollte ja selbst schon
den Josefroman schreiben, den Thomas Mann viel später dann ausgeführt hat. Er hat
ja vieles an der kirchlichen Symbolik nicht vertragen, das Glockengeläut zum Beispiel
oder den Skandal der Passion, den er eben als Skandal empfunden hat. Die Kreuzigung
ist ja eine Todesstrafe, die im Altertum, im römischen Altertum, nur den niederen
Verbrechern zugemutet war. Auch den Staatsverbrechern . Das alles hat ihn auch gestört
und ich finde, ich bin meinerseits Protestant genug, um zu glauben und zu wissen,
dass da Ärgernis im Zentrum des Christentums für den Glauben ganz unentbehrlich ist.
Da bin ich ein Kirkgegaardianer . Also eine Kirche, deren Botschaft zu glatt im Evangelium
aufgeht, der kann ich nicht ganz trauen.“
Eine letzte Frage und zwar ein
Wort noch zu Europa. Ist es nicht ein Wunder, ein politisches Wunder, dass Europa
in einem Bündnis von 28 Staaten zusammengefasst ist? Sie, Herr Muschg, haben die Europäische
Union einmal sogar, das bis jetzt wichtigste Projekt der bisherigen Menschheitsgeschichte
bezeichnet. Und dennoch spricht man heute noch vorherrschend von einer europäischen
Krise. Wie muss der nächste Qualitätssprung aussehen, der die Krise überwinden, der
Europa retten wird?
„Ich fürchte er ist immer aus Not geboren. Europa wäre
nicht so zusammengekommen oder die EU wäre nicht zusammen gekommen ohne den Abgrund,
diesen Sündenfall des 2. Weltkriegs der eigentlich nur Besiegte zurückgelassen hat.
Und dieser Schock war nötig um zu erwachen. Ich möchte sagen für das Minimum einer
gemeinsamen Verständigung aufzukommen. Ich wünsche es Europa nicht, was ich fürchte,
ist Tatsache. Europa braucht wieder eine Krise, hoffentlich nicht dieses mörderischen
Umfangs, damit es zu sich selbst kommt. Und ich unterscheide im Übrigen sehr wohl
zwischen Europa und der EU. Die EU ist ein politisches Projekt, Europa ist und bleibt
ein kulturelles Projekt, soweit wie die Welt, soweit die Beziehungsfähigkeit der europäischen
Völker und europäischen Menschen zu Menschen anderer Kultur reicht. Petersburg ist
eine europäische Stadt, wie es je eine gab. Sie wurde von Italienern und Tessinern
gebaut und von Peter als Öffnung für Europa gedacht. Wir können auch Russland nicht
abschreiben. Aber es wird sicher nicht Mitglied der EU sein können. Es hat eine andere
geschichtliche Rolle . “