2014-05-02 18:37:41

Renovabis-Geschäftsführer: „Die Menschen in der Ostukraine denken praktisch“


RealAudioMP3 Die Lage in der Ostukraine droht zu eskalieren: Bei schweren Zusammenstößen zwischen Anhängern der Kiewer Regierung und prorussischen Aktivisten kamen in Odessa über 30 Menschen ums Leben, mehr als 170 Personen wurden verletzt. In Slawjansk liefern sich Ukrainische Streitkräfte nach wie vor Gefechte mit den Separatisten, die die Stadt seit Wochen kontrollieren. Zumindest wurden dort in den letzten Stunden die sieben OSZE-Beobachter, darunter vier Deutsche, wieder freigelassen.


Die Mehrheit der Bevölkerung in der Ostukraine will keinen Krieg, und dennoch fühlen sich viele Bürger dort Moskau näher als Kiew; auch unter Polizei und Sicherheitskräften gibt es in der Region prorussische Mehrheiten. Welche Prognose ergibt sich daraus für die Zukunft der Ostukraine? Das wollte Radio Vatikan vom Geschäftsführer des katholischen Osteuropa-Hilfswerkes Renovabis, Pater Stefan Dartmann, wissen.



„Man darf nicht vergessen: Es geht hier sehr konkret um wirtschaftliche Situationen, um Vorteile. Das wird bei uns (in Deutschland, Anm.) sehr schnell auf die Ebene der nationalen Identität gehoben, aber die Menschen in der Ostukraine denken teilweise sehr pragmatisch. Und ich glaube, dass auch im Fall der Militärs, die sich selbst in die Hand der Aufständischen ergeben haben, sicher auch ein Teil Opportunismus mit dabei ist. Aber in der Tat zeigt es sich, dass – je weiter man östlich kommt in der Ukraine – die nationale Identität als Ukrainer nicht so gefestigt ist wie man das in anderen Teilen gerne sehen möchte. Und da ist eine solche Situation natürlich mit einer großen inneren Verunsicherung verbunden; viele wollen natürlich am Ende auch auf der Seite der ,Sieger' stehen.“


Viele Menschen erhofften sich von einer möglichen Zugehörigkeit zu Russland wirtschaftliche Vorteile, so Dartmann. Das sei auf der Halbinsel Krim, die Russland nach einem umstrittenen Referendum gleichsam annektierte, ähnlich gewesen:


„Zunächst einmal muss man sagen, dass die Anzahl derer, die in der Ukraine wohnen und die Russisch sprechen, die auch starke Verbindungen durch die Geschichte hinweg zu Russland hatten, doch sehr groß ist, ebenso gibt es enge wirtschaftliche Beziehungen. Auf der Krim hat der Übergang zu Russland bedeutet, dass die Pensionen für alle Leute erheblich gestiegen sind. Also auch da sieht man: Die Leute schauen doch sehr pragmatisch, was hat uns hier Russland zu bieten und was hat uns, im Augenblick jedenfalls, die Ukraine zu bieten. Und da ist die Situation natürlich in den letzten Jahren sehr sehr schwer gewesen, die Menschen haben viel Geduld aufbringen müssen, um sich ökonomisch überhaupt mit dem ziemlich korrupten System in Kiew anfreunden zu können. Und das fällt jetzt natürlich ins Gewicht, dass die alte Kiewer Führung im Osten der Ukraine zumindest keine großen Fürsprecher hatte.“


Renovabis ist über seine Hilfsarbeit in Kontakt mit Bürgern vor Ort. Abgesehen von wenigen Städten sei die Lage – anders als der Anschein, den die internationale Fernsehberichterstattung erweckt – in der Region relativ ruhig, berichtet Dartmann. Die Berichte über die Gewalt verunsichern viele Menschen, die sich im Großen und Ganzen Sicherheit und Stabilität für ihre Region wünschen. Allerdings stehe die Ostukraine auch unter einem enormen wirtschaftlichen Druck, berichtet Dartmann. Kochen da angesichts dieser Notsituation die Gemüter schon einmal über? Dartmann:


„Dass mit der wirtschaftlichen Entwicklung eines Wertverlustes der nationalen Währung von 50 Prozent gegenüber dem Euro in den letzten Paar Monaten und einem Gaspreisanstieg von 50 Prozent gegenüber dem Jahresanfang natürlich eine wirtschaftliche Situation für die Menschen erreicht ist, die das Leben sehr schwierig macht. Und das trägt natürlich zur Zuspitzung bei...“


„Beunruhigend und unübersichtlich“


Für die Entwicklung der Lage in der Ostukraine sieht Pater Dartmann zeitnah nicht Gutes vorher. Er rechnet mit weiteren Todesopfern.


„Also es ist doch sehr beunruhigend, was wir hören, die Situation ist tatsächlich sehr unübersichtlich. Aber die Tendenz geht dahin, dass gerade die Gebiete um Lugansk und Donezk immer instabiler werden. Was das konkret heißt, sehen wir in diesen Tagen, es ist ja eine Militäraktion in Gange von Seiten der ukrainischen Kräfte, und das wird wohl mit Blutvergießen einhergehen.“


Die Kirchen sind in der Ukraine aus Dartmanns Sicht wichtige Vermittler. Bereits zur Zeit des Wechsels in Kiew hatten Religionsvertreter zu Dialog und Versöhnung aufgerufen; auf dem Maidan wurde gemeinsam gebetet. Können die Kirchen beim aktuellen Konflikt in der Ostukraine eine ähnliche Rolle spielen? Dazu Dartmann:


„Wir wissen von unseren Kontakten vor Ort, das die Kirche sich bemüht, auch in dieser Situation, wo die nationalen Töne auf beiden Seiten Überhand nehmen, die Rolle beizubehalten, die man auf dem Maidan ja doch mit einem gewissen Erfolg auch versucht hat einzunehmen – also egal, um wen es geht, ob das Polen, Russen, Ukrainer sind, dass man allen Menschen gleich begegnet und dass man von daher auch die Spannung übergreifende Seelsorge und Verantwortung wahrnimmt.“


Dartmann berichtet, dass sich die fünf Kirchen des Landes in den letzten Monaten aufeinander zubewegt hätten. Ihr Ziel sei es, „die Stimme der Vernunft und der Besonnenheit zu stärken“, so der Renovabis-Geschäftsführer. In der Krim-Frage hatte sich auch die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchates auffällig zurückgehalten und von einer offiziellen Parteinahme für Russland abgesehen. Ob das angesichts der aktuellen Spannungen in der Ostukraine ähnlich sein werden, bleibe wohl abzuwarten, so Dartmann:


„Aber ich glaube: Das Moskauer Patriarchat hat gar keine andere Möglichkeit, als eine neutrale Rolle zu spielen, denn sobald man sich deutlich auf die Seite einer russischen Intervention stellen würde, würde man in der Ukraine doch sehr stark verlieren. Aber ich glaube, es ist wirklich eine Situation, in der Vieles nicht zu überblicken ist, was die Entwicklung der nächsten Monate und vielleicht auch nur Wochen angeht.“


Russland betreibt eine „Politik der Unterminierung“


Der russische Präsident hat derweil mehrfach betont, Russland habe mit der Eskalation in der Ostukraine nichts zu tun. Die Distanzierung Wladimir Putins von den prorussischen Aktivisten in der Region findet Dartman „nicht sehr glaubwürdig“:


„Ich glaube, dass Russland hier natürlich auch ganz gezielt eine Politik der Unterminierung der inneren Stabilität (in der Ukraine, Anm.) betreibt. Allerdings bedarf es da manchmal nur eines kleinen Anstoßes, und die auseinanderdriftenden Kräfte der Ukraine kommen dann richtig in Bewegung. Von daher glaube ich nicht, dass hinter jedem Schachzug gleich die russische Regierung zu vermuten ist, aber dass Russland hier keine befriedigende, deeskalierende Rolle spielt, das ist eindeutig!“


Die Projekte der kirchlichen Solidaritätsaktion, die ihren Schwerpunkt in Ost- und Mitteleuropa hat, sind aus Sicht ihres Hauptgeschäftsführer nicht gefährdet. Wegen der enormen Preissteigerungen helfe Renovabis auf der Krim kurzfristig mit Medikamenten- und Nahrungsmittellieferungen. Doch auch langfristig wolle man das Land keinesfalls aus den Augen verlieren, bekräftigt Dartmann im Gespräch mit Radio Vatikan:


„Wir fühlen uns nach wie vor doch auch sehr ermutigt, unsere etwas längerfristige Projektpolitik weiterzuführen, denn an dieser Projektpolitik zeigt sich, dass wir auf eine zukünftige friedliche Entwicklung in der Ukraine setzen, auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft, die Bildung, das Investieren in Menschen, in den Ausbau der Zivilgesellschaft. Das wird sich langfristig doch als eine richtige Investition erweisen. Deswegen hoffe ich, dass wir unsere Projekte, wie es bisher geschehen konnte, nach wie vor durchziehen können, und ich hoffe auch, dass es zur Einweihung einer Mittelschule kommt in Iwano-Frankiwsk (Stanislau in der Westukraine, Anm.), die wir für September dieses Jahres vorgesehen haben.“


Langfristige Projekte in den Bereichen Bildung und Zivilgesellschaft unterstützt Renovabis in allen Landesteilen, schwerpunktmäßig aber im Westen des Landes. Hauptprojektpartner sind laut Dartmann die griechisch-katholische Kirche mit rund fünf Millionen und die römisch-katholische Kirche mit etwa einer Million Mitgliedern.


(rv/kna/diverse 02.05.2014 pr)








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