Der türkische Regierungschef
Recep Tayyip Erdoğan hat den Nachkommen der im Osmanischen Reich getöteten Armenier
erstmals sein Mitgefühl ausgesprochen. In Armenien wird der 24. April offiziell als
Völkermord-Gedenktag begangen: Es war am 24. April 1915, als die Deportation armenischer
Intellektueller aus der osmanischen Hauptstadt Istanbul begann, die damals den Massenmord
an den christlichen Armeniern einleitete. Dass der türkische Regierungschef in seiner
Erklärung die Ereignisse von damals als „unmenschlich“ bezeichnete, überrascht; Erdoğan
schlägt damit einen deutlich versöhnlicheren Ton an als seine Vorgänger. Wie diese
Geste der türkischen Regierung einzuordnen ist, darüber hat Radio Vatikan mit Christoph
Marcinkowski vom katholischen Hilfswerk missio in Aachen gesprochen. „Zunächst
einmal ist es schon ein Schritt in die richtige Richtung, denn seit 2009 sind ja die
Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei, die sich positiv zu entwickeln schienen,
wieder zu einem Stillstand gelangt. Diese Beileidsbekundung von Erdoğanist da also ein richtiger Schritt, wenn er auch den Begriff ,Genozid’ vermieden
hat. Er hat aber das Angebot gemacht, die Archive zu öffnen und eine bilaterale Historikerkommission
einzusetzen.“ Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu hatte Mitte Dezember
bei einem Besuch in der armenischen Hauptstadt Eriwan die Deportationen der Armenier
als „Fehler“ und „unmenschlich“ bezeichnet und sich für eine Versöhnung beider Länder
auf Grundlage einer „gerechten Erinnerung“ ausgesprochen - ein neuer Akzent nach der
seit 2009 herrschenden Funkstille. Doch geht es Erdoğan tatsächlich um Aufklärung
und Versöhnung? Dazu der missio-Experte: „Man muss natürlich auch sehen, trotz
dieses positiven Ansatzes, dass er natürlich auch bestimmte Interessen zu verfolgen
scheint, denn im nächsten Jahr, 2015, ist ja der 100. Jahrestag des Armenier-Massakers.
Und 2015 ist für die Türkei auch der hundertste Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges
auf Seiten der Mittelmächte; die Türkei ist dem Krieg ja ein Jahr später beigetreten.
Präsident Obama wird dazu auch Stellung nehmen im nächsten Jahr, und da möchte die
Türkei natürlich möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Der zweite Punkt: Es könnte
auch sein, dass Erdoğanseine Landsleute vielleicht indirekt
darauf vorbereiten will, dass es unter Umständen doch zu einer Benutzung, einer Anerkennung
des Terminus ,Völkermord’ kommen könnte.“ Einer der Gründe, warum sich die
Türkei bisher gegen eine Anerkennung des Massenmordes als „Völkermord“ gewehrt hat,
seien wohl finanzielle Entschädigungsansprüche der Armenier, die dann auf das Land
zukommen könnten, vermutet Marcinkowski. Auf der anderen Seite dürfe man nicht vergessen,
dass es damals auch Übergriffe auf Türken und Kurden in Ostanatolien gegeben habe,
erinnert er weiter. Hier dürfe man die Geschichte „nicht einseitig“ betrachten – auch
deshalb sei eine beiderseitige Historikerkommission so wichtig. Bis heute ist umstritten,
was 1915 genau geschah und wie viele Opfer es gegeben hat. Die Schätzungen schwanken
zwischen 200.000 bis 2,5 Millionen Getöteten – beide Angaben seien wohl nicht korrekt,
so der missio-Experte. Überhaupt sei die Geschichte nicht so eindeutig. „Man
muss auch sehen, welches Regime dort damals in der Türkei an der Macht war – die Jungtürken.
Das Sultanat hat damals nur noch auf dem Papier bestanden, das war eine naturalistische
Regierung, die übrigens auch als Antwort auf die Nationalismen der slawischen Nachbarstaaten
zu sehen ist, die sich dann von den Osmanen abgespalten haben, die praktisch die Türkei
in diesen Krieg brachten. Wenn man sich zum Beispiel Politiker wie Atatürk anschaut,
die eigentlich gegen den Kriegseintritt waren, dann sieht man auch, dass die Politiker
und die Generäle damals gespalten waren. Man kann von einer Regierungsaktion sprechen,
aber nicht vom Krieg zwischen zwei Völkern, die eigentlich Jahrhunderte lang friedlich
zusammengelebt hatten. Ich glaube, der Weg vorwärts ist wirklich Aufklärung durch
eine Historikerkommission.“ (rv/diverse 24.04.2014 pr)