Bekehrt euch, solange
noch Zeit bleibt! Das hat Papst Franziskus am Freitagabend der Mafia zugerufen. In
einer römischen Pfarrei betete er mit Angehörigen von Mafia-Opfern; die Vigil fand
in der Kirche San Gregorio VII. nahe der Vatikanmauern statt. Ein Gottesdienst im
Zeichen des Gedenkens an die rund 15.000 unschuldigen Opfer, die das organisierte
Verbrechen in den letzten Jahrzehnten in Italien gefordert hat. Beifall für den
Papst: Das ganze Viertel ist auf den Beinen, als Franziskus abends in einem dunklen
Kleinwagen an der modernen Pfarrkirche vorfährt. Viele Menschen säumen die Zufahrtsstraße
und winken. Vor der Kirche umarmt der Papst als erstes und sehr herzlich den italienischen
Priester Luigi Ciotti, der ihn zur Gebetsvigil eingeladen hatte. Don Ciottis Organisation
„Libera“ ruft jährlich zu einem „Tag der Erinnerung und des Einsatzes“ gegen Mafia,
Camorra und andere Verbrecherorganisationen auf. Hand in Hand gehen der Papst
und der Anti-Mafia-Priester in die Kirche hinein. Dort begrüßt Franziskus Angehörige
von Mafia-Opfern, darunter viele Kinder. Rund 900 Familien füllen den überschaubaren
und schmucklosen Innenraum des Gotteshauses. „Heiliger Vater“, so wendet sich eine
Frau an den Papst. Ihr Vater, ein Händler, ist 1989 in Locri von der Mafia umgebracht
worden. „Schauen Sie uns an, Heiliger Vater. Jeden von uns. Wir alle trauern um einen
Vater, eine Mutter, einen Sohn, einen Bruder, eine Schwester, eine Frau, einen Mann.
Wir sind geprägt von ihrem Fehlen – aber auch von ihrem Mut, ihrem Stolz, unserem
Willen, weiterzuleben.“ Ein Chor singt den Sonnengesang des heiligen Franziskus, dann
werden, einer nach dem anderen, die Namen der von der Mafia Getöteten verlesen. Jeder
Name: eine Geschichte. Angehörige von Opfern wechseln sich beim Verlesen ab. Mehr
als eine halbe Stunde dauert dieses Aneinanderreihen der Namen, insgesamt 842 Namen
werden genannt. „Wir gedenken aller“, sagt ein Sprecher: „der Getöteten, deren Namen
wir kennen, und auch der Ermordeten, über die wir noch nicht genug Informationen gefunden
haben. Allen Opfern der Mafia versprechen wir unseren Einsatz.“ Ein kurzes Evangelium
wird verlesen; es sind die Seligpreisungen Jesu. Papst Franziskus ist sichtlich
bewegt, als er dann das Wort ergreift. Er wolle den Angehörigen der Mafia-Opfer eine
Hoffnung mitgeben, sagt er: „die Hoffnung, dass allmählich der Sinn für Verantwortung
über die Korruption den Sieg davonträgt“. Von innen müsse diese Änderung kommen, „vom
Gewissen her“; von dort aus müssten sich „die Verhaltensweisen ändern, die Beziehungen,
das soziale Gefüge“, so der Papst. Hartnäckigkeit brauche man dazu und Durchhaltevermögen,
aber so könne die Gerechtigkeit allmählich „Raum gewinnen, Wurzeln schlagen, sich
ausbreiten“. „Ich will vor allem denen unter euch meine Solidarität ausdrücken,
die durch Mafia-Gewalt einen geliebten Menschen verloren haben. Danke für euer Zeugnis,
weil ihr euch nicht in euch selbst verschlossen habt, weil ihr hinausgegangen und
eure Geschichte von Schmerz und Hoffnung erzählt habt. Das ist so wichtig, vor allem
für die jungen Leute!“ Er bete von ganzem Herzen für alle Opfer der Mafia: Noch
vor ein paar Tagen, so Papst Franziskus, hätten Killer in Taranto sogar ein Kind nicht
verschont. Den „großen Abwesenden heute“, den „abwesenden Hauptdarstellern“, wolle
er auch noch etwas sagen, den Männern und Frauen der Mafia. „Ich bitte euch, ändert
euer Leben, bekehrt euch, hört auf, das Böse zu tun! Und wir beten für euch: bekehrt
euch. Darum bitte ich euch auf Knien. Es ist für euer eigenes Wohl. Das Leben, das
ihr jetzt lebt, gefällt uns nicht und wird keine Freude bringen, euch wird es nicht
glücklich machen. Die Macht und das Geld, die ihr jetzt habt, aus vielen schmutzigen
Geschäften und Mafia-Verbrechen, sind blutiges Geld und mit Blut befleckte Macht,
und wird euch nicht ins andere Leben bringen. Bekehrt euch: jetzt ist noch Zeit, um
nicht in der Hölle zu enden. Und die erwartet euch, wenn ihr auf dieser Straße weitergeht.“ Und
Franziskus fuhr fort: „Auch ihr habt einen Vater und eine Mutter gehabt, denkt
an sie! Weint ein wenig und bekehrt euch.“ Zum Schluss des atmosphärisch sehr dichten
Gottesdienstes betet der Papst gemeinsam mit den Gläubigen das Vater Unser. Den Segen
erteilt er dann mit der Stola des Priester Don Peppe Diana um den Hals: Der Geistliche
ist vor genau zwanzig Jahren von der Mafia erschossen worden, er war ihr in die Quere
gekommen, weil er jungen Leuten durch seine Pfarreiarbeit eine Alternative zur Kriminalität
bot. Die Brüder von Don Peppe Diana sind an diesem Abend in Rom bei der Gebetsvigil
mit dabei, auch die Brüder des gleichfalls ermordeten sizilianischen Geistlichen Don
Pino Puglisi, der bereits seliggesprochen worden ist. Der Geistliche Luigi Ciotti
hatte Papst Franziskus zu der Gedenkveranstaltung für Mafia-Opfer eingeladen. Die
von Ciotti gegründete Anti-Mafia-Organisation „Libera“ ruft seit 1996 jährlich zu
einem „Tag der Erinnerung und des Einsatzes“ gegen Mafia, Camorra und andere Verbrecherorganisationen
auf. Vor dem Papst und Hunderten von Betroffenen erinnerte Don Ciotti bei der Gebetsvigil
daran, wie sehr das organisierte Verbrechen mit Gesellschaft und Kultur verwoben sei.
Er sagte in seinem Grußwort: „Das Problem der Mafiaorganisationen ist kein nur
kriminelles Problem. Wenn das so wäre, würden die Einsatzkräfte der Polizei und die
Justiz reichen. Es ist ein soziales und kulturelles Problem, ein Problem, das öffentliche
und soziale Verantwortlichkeiten betrifft, die oft zu persönlichem Machtgebaren und
angesichts von Individualismus degenerieren.“ Die an diesem Abend in Rom versammelten
Betroffenen seien durch den Wunsch nach Wahrheit und Gerechtigkeit vereint, fuhr er
fort. Unter den über 800 Mafiaopfern, deren Namen verlesen wurden, seien 80 Kinder,
zahlreiche zufällige Opfer und viele Menschen, die sich ganz bewusst und mutig gegen
das grganisierte Verbrechen gewehrt hätten: „Wer das Leben für die Gerechtigkeit und
die Wahrheit verliert, schenkt Leben, er selbst ist Leben – wie alle Opfer des Terrorismus
und der Pflicht, an die wir heute Abend denken“, so der Geistliche, der die Bürger
zu Zivilcourage gegen die Mafia aufrief. Auch die beiden bekannten italienischen Staatsanwälte
Paolo Borsellino und Giovanni Falconi, die die Mafia in den 90er Jahren tötete, standen
auf der Liste, ebenso mehrere Kirchenvertreter, die sich im Kampf gegen die Mafia
engagiert hatten. Weiter erinnerte er an die zahlreichen Toten, die es in Italien
jährlich aufgrund unversicherter Arbeit und der Schwarzarbeit gibt – auch dies ein
Terrain des organisierten Verbrechens. Und er ging auf den Psychoterror ein, den viele
Mafiaopfer und Angehörige durch die Repression und Drohungen der Verbrecher erleiden
müssen. Vor diesem Hintergrund sei mehr Entschiedenheit der Politik nötig, mahnte
der engagierte Priester: „Es braucht heute mehr denn je einen Ruck. Es braucht
eine soziale Politik, Arbeitsplätze, Investitionen in Schulen. Man muss den Menschen
Hoffnung und Würde wiedergeben. Die Politik muss sich wieder in den Dienst des Gemeinwohls
stellen. Und insbesondere muss man die Güter der Mafia konfiszieren und den sozialen
Gebrauch, den sie davon machen, einschränken.“ Die Mafia hat, etwa in vielen Teilen
Süditaliens, als „Arbeitsgeber“ den Staat als Garanten von Arbeit untergraben. Das
Problem wird durch die Wirtschaftskrise noch verstärkt. Hier muss nach Ansicht von
Don Ciotti der Staat seine Wirkungsmacht Stück für Stück zurückgewinnen und das soziale
Leben stärken. Auch müsse man die Menschen unterstützen, die sich um Gerechtigkeit
bemühten, indem sie mutig mit der Justiz zusammenarbeiteten. Von der Mafia bedrohte
Bürger bräuchten Unterstützung, appellierte der Geistliche, der sich auch für mehr
Bemühungen im Kampf gegen die Korruption aussprach. (rv 22.03.2014 sk/pr)