Venezuela: „Reale Chance, dieses System zu verändern“
„Die Repression in
Venezuela ist unheimlich stark“: Das sagt Reiner Wilhelm vom bischöflichen Lateinamerika-Hilfswerk
„adveniat“. Im Gespräch mit Radio Vatikan meinte der Venezuela-Experte am Montag,
die Bilder aus Caracas, wo seit zwei Wochen vor allem Studenten demonstrieren, könnten
einen durchaus an die Bilder aus Kiew von vor ein paar Tagen erinnern.
„Die
Regierung reagiert auf die Forderungen der Demonstranten sehr stark mit Repression,
mit Gewalt, Tränengas und Schlagstöcken. Es sind inzwischen zehn Jugendliche umgekommen;
viele sind verletzt, und eine Welle von Verhaftungen geht durch das Land. Die Medien
sind eingeschränkt, so dass man kaum an verlässliche Informationen kommen kann.“
Was
für ein Kontrast zur Zeit von Hugo Chavez: Der Präsident, der vor knapp einem Jahr
gestorben ist, war während seiner Regierung von 1999 bis 2013 zu einer Galionsfigur
von Linken in Lateinamerika und darüber hinaus geworden. Für seine Sozialprogramme
hatte der Erfinder eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ viel Lob bekommen. Wilhelm:
„Die
Sozialprogramme sind fast völlig zum Erliegen gekommen. Das hat auch damit zu tun,
dass im Land wirklich absolute Mangelwirtschaft herrscht – inzwischen muss sogar Benzin
eingeführt werden! Die Regale sind leer, die Menschen müssen also stundenlang anstehen,
um Grundnahrungsmittel zu bekommen. Toilettenpapier, Hygieneartikel sind schwer zu
bekommen, und auch dafür muss man sehr, sehr lange anstehen.“
Die Unzufriedenheit
in der Bevölkerung sei darum sehr groß, so der „adveniat“-Experte. Die Leute hätten
es „mittlerweile einfach satt“.
„Maduro ist eigentlich nicht mehr Herr
der Lage“
„Die Kriminalitätsrate ist immens gestiegen; im letzten
Jahr wurden fast 25.000 Menschen ermordet. Alle Leute bitten einfach um Frieden. Und
das ist auch einer der Gründe, weshalb es in Venezuela diese Ausschreitungen gibt.
Man ist mit Maduro absolut unzufrieden!“
Präsident Nicolas Maduro, ein
ehemaliger Busfahrer und Gewerkschafter, reiche bei weitem nicht an die charismatische
Persönlichkeit seines Vorgängers Chavez heran.
„Man merkt auch, dass er
selber eigentlich nicht mehr Herr der Lage ist. Die sehr starke Repression, die Aggressivität,
mit der man auf die eigene Bevölkerung losgeht, ist immens. Man muss auch sehen, dass
es inzwischen Schlägertrupps gibt, die Chavez seinerzeit mit Waffen ausgestattet hat;
die sind inzwischen auf die Menschen losgelassen worden – daher auch die hohe Zahl
der Verletzten und der Toten!“
Anders als vom Regime behauptet hat sich
die Opposition in Venezuela in letzter Zeit nicht unbedingt radikalisiert, urteilt
Wilhelm. Allerdings verfüge sie jetzt mit Leopoldo Lopez über einen mitreißenden Anführer.
Der frühere Bürgermeister von Chacao, der vor kurzem fünf Tage lang untertauchte,
weiß offenbar auch überzeugend auf der Klaviatur der Medien zu spielen.
„Lopez
ist ja direkter Nachfahre des Befreiers Simon Bolivar, was in der Gesellschaft einen
wichtigen Stellenwert hat. Zudem hat er sich selbst gestellt, und zwar in einem öffentlichen
Akt unter Beteiligung der Presse. Man nutzt wirklich sehr geschickt die Medien: Er
hat sich bei der Übergabe von seiner Frau ein Kreuz überhängen lassen. Die Macht der
Bilder spielt da eine immens wichtige Rolle, er hat sich zum Märtyrer hochstilisiert.“
„Lopez
stilisiert sich zum Märtyrer hoch“
Das konnte, bis Lopez kam, nur einer
so richtig in Venezuela: Hugo Chavez nämlich, der vor einem Jahr verstorbene Staatschef.
„Das,
was Chavez immer gemacht hat, nämlich mit den Medien zu spielen, sein Charisma auszudrücken
und sich als direkter Nachfolger des Revolutionärs Jesus Christus darzustellen, das
macht jetzt Leopoldo Lopez in derselben Art und Weise: indem er sich zum Märtyrer
hochstilisiert. Natürlich ist das auch sehr religiös behaftet.“
Dass sich
die Opposition radikalisiert habe, wage er zu bezweifeln, so Reiner Wilhelm.
„Es
gibt eine Chance, eine reale Chance, dieses System zu verändern! Das ist das, was
im Moment in diesem Land läuft.“
Die katholische Kirche hat sich in der
Zeit, in der noch Chavez am Ruder war, einer „Instrumentalisierung ihrer Botschaft“
nicht erwehren können, so der Experte. Das Evangelium und die theologische Sprache
seien von den Mächtigen „umgedeutet“ worden; der Begriff „misiones“, der eigentlich
Volksmissionen meint, sei zum Beispiel von Chavez auf seine Sozialprogramme umgemünzt
worden.
„Was die Kirche inzwischen tut, ist, zum Frieden und zum Dialog
aufzurufen – und das ist wirklich auch die einzige Institution, der es möglich ist,
diese Polarisierung aufzubrechen, die Menschen an einen Tisch zu bringen. Aber dazu
gehören natürlich immer zwei Seiten: Die Schüler und Studenten sind bereit, die Anführer
der Schülerproteste haben sich an die Bischöfe gewandt mit der Bitte, zu vermitteln,
aber nach wie vor ist Maduro noch nicht so weit. Er versucht, mit Agitation und einem
Vokabular, das sehr aggressiv ist, die Situation zu verändern.“
An diesem
Montag wird gemeldet, dass Bischöfe aus dem kolumbianisch-venezolanischen Grenzgebiet
sich für eine Lösung der politischen Krise in Venezuela engagieren wollen. Auf einem
Treffen möchten sie länderübergreifende Maßnahmen besprechen. Im Grenzgebiet hatten
die Proteste vor zwei Wochen angefangen. Gleichzeitig begrüßen die Bischöfe eine neue
Ankündigung von Präsident Maduro: Er will für Mittwoch alle politischen Kräfte des
Landes zu einer Friedenskonferenz einladen.