Aktenzeichen: Ein Papst erhält den Aachener Karlspreis
Der Internationale
Karlspreis zu Aachen, der 1950 erstmals vergeben wurde, ist der älteste und bekannteste
Preis, mit dem Persönlichkeiten oder Institutionen ausgezeichnet werden, die sich
um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben. Zum Namensgeber für
den Preis wurde Karl der Große, der als erster Einiger Europas gilt und dessen 1.200
Todesjahr in diesem Jahr begangen wird. Die Auszeichnung wird traditionell am Christi
Himmelfahrtstag im Krönungssaal des Aachener Rathauses im Rahmen eines Festaktes überreicht.
Er fördert die Völkerverständigung und das Zusammenleben der Bürger, Völker, Nationen
und Staaten in Europa.
Am 24. März 2004 wurde in Rom der Außerordentliche Internationale
Karlspreis an den bereits von schwerer Krankheit gezeichneten Papst Johannes Paul
II. verliehen - in Würdigung seines herausragenden Wirkens für die Einheit Europas,
die Wahrung seiner Werte und die Botschaft des Friedens. Außerordentlich wird dieser
Karlspreis auch genannt, erstens weil er nicht in Aachen, sondern in Rom vergeben
wurde, zweitens, weil er erstmals in der Kirchengeschichte einem Papst zuerkannt wurde
und drittens – aber das wusste man vor zehn Jahren noch nicht - weil in wenigen Wochen
zu den bisherigen Preisträgern Karls des Großen erstmals ein Heiliger der katholischen
Kirche zu zählen sein wird.
Wir lassen den 24.März 2004 nochmals Revue passieren
und beginnen unsere Rückschau mit Auszügen aus der Rede des damaligen Oberbürgermeisters
der Stadt Aachen, Jürgen Linden, an Seine Heiligkeit Papst Johannes Paul II. - an
Karol Wojtyla: Ort der Preisverleihung ist die Sala Clementina im Apostolischen Palast
im Vatikan. Es spricht Jürgen Linden.
„Eure Heiligkeit, Eminenzen, Exzellenzen,
verehrte Festversammlung, die Stadt Aachen ist durch ihre Jahrhunderte lange Situation
an der Grenze, durch ihre Geschichte und durch ihre heutige Lage im Herzen Europas
dem Zusammenwachsen unseres Kontinents, der Überwindung der Grenzen und der Freundschaft
der europäischen Völker besonders verpflichtet.
Seit mehr als fünf Jahrzehnten
wird in unserer Stadt der Internationale Karlspreis an Persönlichkeiten und Einrichtungen
vergeben, die in überdurchschnittlicher Weise die Einigungsbestrebungen der europäischen
Völker fördern und das Bemühen um ein Zusammenleben in Frieden, Freiheit und Demokratie
tatkräftig unterstützen. Heute ist der Aufbruch zu einem vollkommenen Zusammenschluss
Europas keine Utopie mehr. Allerdings: Europa ist für viele Menschen auch komplizierter
geworden. Antworten auf existenzielle Lebensfragen, z. B. der äußeren und der sozialen
Sicherheit, dem Schutz vor Terrorismus und Gewalt bleiben unklar. Auch die Fragen
nach dem Funktionieren der Institutionen und der demokratischen Beteiligung am weiteren
Entwicklungsprozess sind noch unbeantwortet. Die großen politischen Herausforderungen
- Eingliederung der neuen Mitgliedsstaaten und innere Reform durch den Verfassungsvertrag
- verlangen deshalb jetzt neuen politischen Mut und Weitsicht. In diesem ernsten Augenblick
schätzt sich das Direktorium zur Verleihung des Internationalen Karlspreises glücklich,
zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Außerordentlichen Internationalen Karlspreis
verleihen zu dürfen, der Dank für außergewöhnliches Engagement an eine außergewöhnliche
Persönlichkeit ist, der aber auch die überzeugenden Visionen eines überzeugenden Visionärs
stärken möchte. Heiliger Vater, wir danken Ihnen, dass Sie uns die Ehre erweisen,
diese Auszeichnung anzunehmen. Hochverehrter Heiliger Vater, Sie haben zeit Ihres
Wirkens die Einheit Europas gefördert und vor den Menschen ein lebendiges und wahrhaftiges
Bekenntnis zu Europa abgelegt. In herausgehobener Weise leben Sie uns die europäischen
Werte vor, insbesondere den Respekt vor der Würde und der Freiheit des Menschen, die
Gleichheit, die Solidarität und die Mitmenschlichkeit. Überzeugend treten Sie ein
für die Unantastbarkeit der Menschenrechte und vor allem für die Unzerbrechlichkeit
des Friedens. Achtung vor dem Leben, Achtung vor der Schöpfung sind Ihre unverrückbaren
Botschaften für unsere Lebensgestaltung. Wer die Macht Ihres Wortes ernst nimmt, weiß
zudem: Europa hat gerade mit diesen Werten auch einen Beitrag in der Welt zu leisten.
Das Erbe der ethischen Werte und religiösen Erfahrungen, der Austausch der geistigen
Traditionen und Errungenschaften, die Vielfalt der europäischen Kultur und ein gemeinsames
Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit sind für Sie die ausschlaggebenden
Ziele der europäischen Integration. Europa erlebt Sie, Heiligkeit, als einen der großen
geistigen Führer, als vitalen und konstruktiven Mittelpunkt im europäischen Entwicklungsprozess,
als Leitstern vor allem für viele junge Menschen bei der Suche nach ihrem Lebensweg.
Die Vollendung der europäischen Einheit, die durch den Fall des Eisernen Vorhanges
erst möglich wurde, ist maßgeblich von Ihnen beeinflusst worden. Mit Ihrer ersten
Reise nach Polen 1979, haben Sie das Selbstbewusstsein der Menschen in Mittel- und
Osteuropa nachhaltig gestärkt. In der beginnenden Aufbruchstimmung um die Gewerkschaft
Solidarnosc erklärten Sie die katholische Soziallehre zum dritten Weg zwischen Kommunismus
und Kapitalismus. Die freie Gewerkschaft hat den Umbruch in Polen eingeleitet, dem
in einer Kettenreaktion die übrigen Ostblockstaaten folgten. „Europa muss mit beiden
Lungenhälften atmen", haben Sie vielfach erklärt - und so uns Europäer immer wieder
ermutigt, nach der Einheit zu streben und die dauerhafte Chance für Verständigung,
Freiheit und Humanität zu nutzen. Durch Ihre besondere Fähigkeit, Menschen unterschiedlicher
Herkunft, Auffassung und verschiedenen Glaubens zusammenzubringen, haben Sie die Suche
nach Gemeinsamkeiten in Europa vertieft und uns Mut und Kraft für den neuen Weg gegeben.
Das interreligiöse Gespräch mit den christlichen Kirchen sowie mit den Juden und Muslimen
haben Sie zur Grundlage und Voraussetzung für den inneren Frieden in Europa gemacht
- einen Frieden nicht nur zwischen den Völkern und Ethnien, sondern auch in der bunt
gemischten, sich wandelnden Gesellschaft unserer Städte. Ihr bewegender Besuch an
der Klagemauer zu Jerusalem, Ihr Gedenken in Yad Vashem, Ihr Gebet in der Omaijaden-Moschee
zu Damaskus sind Ausdruck ihrer Überzeugung, dass Dialog und Versöhnung das Fundament
für eine bessere Welt sind. Eure Heiligkeit, das Direktorium zur Verleihung des Internationalen
Karlspreises würdigt Ihre Leistung als herausragenden und vorbildlichen Beitrag zur
Einheit Europas und seiner Rolle in der Welt. Sie verkörpern wie keine andere Persönlichkeit
die europäischen Werte von Gleichheit und Brüderlichkeit. Ihr Eintreten für die Unantastbarkeit
des Friedens und für Versöhnung sind Vorbild und Verpflichtung für uns alle. Heiliger
Vater, wir danken Ihnen für die Annahme des Außerordentlichen Internationalen Karlspreises
zu Aachen.“
Das waren Ausschnitte aus der Rede des damaligen Oberbürgermeisters
der Stadt Aachen, Jürgen Linden, bei der Preisvergabe des Karlspreises vor zehn Jahren
am 24. März 2004 in Rom. Wir haben gehört: die Entwicklung zum umfassenden Zusammenschluss
der europäischen Völkerfamilie ist untrennbar mit der Persönlichkeit und dem Lebenswerk
von Johannes Paul II. verbunden. Sein über 25-jähriges Pontifikat wird als ein Zeitraum
in die Geschichte eingehen, in dem das Fundament für eine dauerhafte Friedens- und
Freiheitsordnung und für Stabilität und Wohlstand für zukünftige Generationen auf
dem ganzen Kontinent geschaffen wurde. – Für Johannes Paul II. war es mühsam, seine
Dankesrede und Ansprache an die versammelten Festgäste zu halten. Zu sehr war er schon
vom schweren Leiden gekennzeichnet. Dennoch bringen wir hier noch die wichtigsten
Auszüge aus seiner vielbeachteten Rede. Es war eine seiner letzten großen Auftritte
auf dem internationalen Parkett. Ein Jahr später war Johannes Paul II. bereits verstorben.
„Sehr
geehrter Herr Oberbürgermeister, verehrte Mitglieder des Karlspreis-Direktoriums,
hochwürdigste Herren Kardinäle, Exzellenzen, sehr verehrte Gäste, meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ein herzliches Willkommen entbiete ich Ihnen allen hier im
Vatikan. Mein besonderer Gruß gilt den Vertretern der Stadt Aachen mit Herrn Oberbürgermeister
Linden sowie den Gästen aus der Bundesrepublik Deutschland. Im Bewusstsein, dass die
Einigung Europas der Katholischen Kirche seit langem ein Herzensanliegen ist, sind
Sie hierher gekommen, um dem Nachfolger Petri die Ehre der Auszeichnung mit dem außerordentlichen
Internationalen Karlspreis zu erweisen. Wenn ich diesen in einmaliger Weise verliehenen
Preis heute entgegennehmen darf, so tue ich das in Dankbarkeit gegenüber dem Allmächtigen
Gott, der die Völker Europas mit dem Geist der Versöhnung, des Friedens und der Einheit
erfüllt.“
Der Preis, mit dem die Stadt Aachen Verdienste um Europa zu würdigen
pflegt, ist mit gutem Grund nach Kaiser Karl dem Großen benannt. In der Tat hat der
Frankenherrscher, der Aachen zu seiner Hauptstadt machte, zu den politischen und kulturellen
Grundlagen Europas nicht unwesentlich beigetragen und sich daher schon von seinen
Zeitgenossen den Namen eines „Pater Europae“ verdient. Die glückliche Verbindung von
klassischer Kultur und christlichem Glauben mit den Traditionen der verschiedenen
Völker gewann in Karls Reich Gestalt und hat sich als geistig-kulturelles Erbe Europas
durch die Jahrhunderte hindurch unter verschiedenen Formen entfaltet. Wenn auch das
moderne Europa in vielerlei Hinsicht eine andere Wirklichkeit darstellt, so kann deshalb
der historischen Figur Karls des Großen doch ein hoher symbolischer Wert zuerkannt
werden.
Heute hat die wachsende Einheit Europas auch andere Väter. Sie verdankt
sich zu einem nicht zu unterschätzenden Teil jenen Denkern und politischen Gestaltern,
die der Versöhnung und dem Zusammenwachsen ihrer Völker den klaren Vorrang vor dem
Beharren auf eigenen Rechten und vor Abgrenzungen gegeben haben und geben. In diesem
Zusammenhang möchte ich an die bisherigen Preisträger erinnern, von denen wir einige
hier begrüßen können. Der Apostolische Stuhl anerkennt und ermutigt ihr Wirken und
das Engagement vieler anderer Persönlichkeiten zugunsten des Friedens und der Einheit
der europäischen Völker. Besonders danke ich allen, die ihre Kraft in den Dienst des
Aufbaus des gemeinsamen Hauses Europa auf der Grundlage der durch den christlichen
Glauben vermittelten Werte sowie der abendländischen Kultur stellen.
Auf Grund
der Beheimatung des Heiligen Stuhls auf europäischem Boden steht die Kirche zu den
Völkern dieses Kontinents in einer besonderen Beziehung. Von Anfang an hat daher der
Heilige Stuhl auch am Prozess der europäischen Integration regen Anteil genommen.
Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs hat mein Vorgänger seligen Angedenkens Pius
XII. das lebendige Interesse der Kirche an der Einigung Europas deutlich gemacht,
indem er der Idee der Schaffung einer „Europäischen Union" nachdrücklich seine Unterstützung
gab. Dabei hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass ein dauerhaftes Gelingen einer
solchen Union an das Christentum als ihren identitäts- und einheitsstiftenden Faktor
gebunden sein müsse).
„Sehr geehrte Damen und Herren, was ist das Europa, welches
man sich heute erträumen müsste? Lassen Sie mich Ihnen an dieser Stelle meine Vorstellung
von einem geeinten Europa skizzieren. Ich denke an ein Europa ohne selbstsüchtige
Nationalismen, in dem die Nationen als lebendige Zentren kulturellen Reichtums wahrgenommen
werden, der es verdient, zum Vorteil aller geschützt und gefördert zu werden. Ich
denke an ein Europa, in dem die großen Errungenschaften der Wissenschaft, der Wirtschaft
und des sozialen Wohlergehens sich nicht auf einen sinnentleerten Konsumismus richten,
sondern im Dienst eines jeden Menschen in Not sowie der solidarischen Hilfe für jene
Länder stehen, die ebenfalls das Ziel der sozialen Sicherheit verfolgen. Möge Europa,
das in seiner Geschichte so viele blutige Kriege hat erleiden müssen, ein tätiger
Faktor des Friedens in der Welt sein. Ich denke an ein Europa, dessen Einheit in einer
wahren Freiheit gründet. Die Religionsfreiheit und die gesellschaftlichen Freiheiten
sind als edle Früchte auf dem Humus des Christentums gereift. Ohne Freiheit gibt es
keine Verantwortung: Weder vor Gott noch gegenüber den Menschen. Die Kirche will gerade
nach dem Zweiten Vatikanum der Freiheit weiten Raum zumessen. Der moderne Staat weiß
darum, kein Rechtsstaat sein zu können, wenn er nicht die Freiheit aller Bürger, sowohl
in ihren individuellen wie auch in ihren gemeinschaftlichen Ausdrucksmöglichkeiten,
schützt und fördert. Ich denke an ein geeintes Europa dank des Engagements der jungen
Menschen. Mit welcher Leichtigkeit verstehen sich die Jugendlichen untereinander,
ungeachtet bestehender geographischer Trennlinien! Aber wie kann eine junge Generation
erstehen, die empfänglich ist für das Wahre, das Schöne, das Edle, für das, wofür
es sich lohnt, Opfer zu bringen, wenn in Europa die Familie nicht mehr eine gefestigte
Einrichtung darstellt, die offen ist für das Leben und für selbstlose Liebe? Eine
Familie, in der auch die älteren Menschen im Blick auf das Allerwichtigste ganz selbstverständlich
dazugehören: die aktive Vermittlung der Werte und des Lebenssinnes. Das Europa, das
mir vorschwebt, ist eine politische, ja mehr noch eine geistige Einheit, in der christliche
Politiker aller Länder im Bewusstsein der menschlichen Reichtümer, die der Glaube
mit sich bringt, handeln: engagierte Männer und Frauen, die solche Werte fruchtbar
werden lassen, indem sie sie in den Dienst aller stellen für ein Europa des Menschen,
über dem das Angesicht Gottes leuchtet. Dies ist der Traum, den ich im Herzen trage
und den ich bei dieser Gelegenheit Ihnen und den kommenden Generationen anvertrauen
möchte.“