2014-02-01 10:47:57

Unser Buchtipp: Kongo


RealAudioMP3 David Van Reybrouck, Kongo – eine Geschichte. Suhrkamp Taschenbuch, ca. 14 Euro.

„Kongo – eine Geschichte“ von David Van Reybrouck ist von Medien wie dem „Spiegel“ oder der „Süddeutschen“ hoch gelobt worden, und ich muß sagen: völlig zu Recht. Denn der belgische Autor ist von Haus aus Dramatiker und weiß darum genau, wie man Lesern ein trockenes Thema spannend nahebringt. Schon die ersten Abschnitte des Buches sind eine Art Kameraschwenk von den Wellen des Atlantiks hinüber zur kongolesischen Küste, und in einem Kapitel über Mobutu greift Van Reybrouck einmal ganz explizit zu filmischem Vokabular: „Auszoomen. Kameraschwenk. Erneut kadrieren. Neuer Fokus: ... Grelles Sonnenlicht. Mobutu... Aufnahmen seiner massiven Statur.“ (S. 432) Wann immer er kann, schaltet der Autor um in den Reportage-Modus, besonders eindringlich bei seinen Gesprächen mit einem über hundertjährigen Kongolesen über die Anfänge der Kolonialzeit und bei seinem Besuch im Lager des Rebellenführers Laurent Nkunda. Sogar eine Tonspur hat dieses Buch, es ist der immer wieder heraufbeschworene Rythmus der kongolesischen Musik, gemischt mit den Alltagsgeräuschen des Landes im Lauf seiner Geschichte: „das Geräusch der Schlitztrommel“, „das dumpfe Wummern des Tamtam“, „das Knallen der Peitsche“, „das Glockenläuten der Missionsstation“, „das Knattern des Radios“, „das Stampfen von Maniok im Mörser“ (S. 650).


Besonders interessant ist die Darstellung der Kolonialzeit. Als Stanley im 19. Jahrhundert Zentralafrika „entdeckt“, ist er dort keineswegs der erste Ausländer, Sklavenhändler im Sold Sansibars herrschen dort längst über die Bevölkerung. Übrigens wird Stanley, anders als heute gängig, von Van Reybrouck nicht als „Erzrassist“ geschildert: „In Wirklichkeit war seine Haltung viel ambivalenter“ (S. 68). Nicht zufällig, sondern aus politischen Erwägungen europäischer Mächte heraus kommt dann das kleine Belgien auf der Berliner Konferenz 1885 an seine Riesenkolonie: „Allgemein herrscht die Ansicht, dass dort und damals die Aufteilung Afrikas vereinbart wurde“, so der Autor, „doch das war keineswegs so. Die Konferenz war nicht der Ort, wo vornehme Herren in geselliger Runde den Kuchen Afrika mit Zirkel und Lineal untereinander aufteilten. Nein, die Konferenz bezweckte genau das Gegenteil: Afrika sollte für Freihandel und Zivilisation geöffnet werden.“ (S. 73) Und Belgiens König Leopold II. sollte denn auch schnell feststellen, dass Kolonisieren unter einer solchen Prämisse „eine kostspielige Sache“ war (ebd.).


Immer neue, überraschende Erkenntnisse verschafft uns Van Reybrouck in seinem Zeitengemälde. Allerdings hätte ich mir eine genauere Charakterisierung Leopolds II. gewünscht. Von vielen anderen Protagonisten in der kongolesischen Geschichte (allen voran dem Autokraten Mobutu) liefert uns Van Reybrouck ein psychologisches Porträt, nicht aber von diesem für die Geschichte des Landes doch so entscheidenden belgischen Herrscher. Ich verstehe schon, dass er den Eurozentrismus in der Geschichtsschreibung des Kongo überwinden will – aber da fehlen mir dann doch ein paar Pinselstriche. Und diese Perspektive führt z.B. auch dazu, dass der Vater des Autors nach 370 Seiten – etwa der Hälfte des Buches – wie aus dem Nichts auftaucht, ein Zeitzeugen-Gastspiel von wenigen Seiten im Katanga der sechziger Jahre gibt... und dann ebenso spurlos wieder von der Bühne verschwindet.


Aber das sind Petitessen, die diesen großen Wurf nicht beeinträchtigen. Wie breit ist doch das Panorama, das Van Reybrouck vor uns entrollt! Was die christlichen Kirchen betrifft, zum Beispiel. Von Beginn der Kolonialisierung an war die Kirche – das wird in „Kongo, eine Geschichte“ sehr deutlich – eine der Stützen des Systems. Überrascht wird der Leser dann aber sein, in welchem Ausmaß einheimische, schwarze Katecheten „zum Brückenkopf zwischen zwei Welten“ (S. 94) wurden: Der frühere Sklave Disasi gründete 1902 „einen der ersten schwarzen Missionsposten“ (ebd.), und mit der Bewegung des „Propheten“ Simon Kimbagu entstand sogar eine einheimische Religion (mit kräftigen Anleihen aus dem Christentum, aber eigenständig), der heute noch – wer hätte das gedacht – etwa zehn Prozent der Bevölkerung angehören. Nicht so sehr katholische oder protestantische Kirchen als vielmehr ein Wildwuchs an evangelikalen und messianischen Pfingstkirchen prägen, wie Van Reybrouck deutlich macht, das heutige Kongo: Sogar im chinesischen Guangzhou entdeckt er, im 31. Stock eines Hochhauses, eine solche kongolesische Hauskirche, die eifrig – mit einem Chinesen am Keybord – um wirtschaftlichen Erfolg betet (S. 643 f.). Bei den zahlreichen religiösen Fernsehstationen, die um die Gunst der Kongolesen buhlen, fällt ihm vor allem das jugendliche Alter der Prediger auf (S. 575).


Mit großer Entschiedenheit unterrichteten die katholischen Missionare von außen während der Kolonialzeit in der Sprache der Einheimischen. „Die meisten Missionare kamen aus Flandern“, so erklärt der Autor das, „und eingedenk des Kampfes um das Flämische in Belgien betrachtete man die eigene Sprache als hohes Gut.“ (S. 141) Dass die Belgier die Menschen des Kongo (und auch anderswo, siehe Ruanda) damals in ein strenges ethnisches Raster einteilten, sollte sich allerdings in der Geschichte der Region der Großen Seen Afrikas bis heute immer wieder rächen. Ein schöneres Erbe hinterließen katholische Missionare mit ihrer Begründung des Vereinslebens: Auf den Scheutisten-Pater Raphael de la Kéthulle geht der erste Sportverein des Kongo zurück, und das riesige Fußballstadion von Kinshasa, das er erbaute, trägt heute seinen Namen (S. 211).


Schleichend, aber unaufhaltsam wurden die Menschen des Kongo kolonisiert, und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus (damals Kautschuk und Kupfer, heute Coltan), sondern oft auch im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts. Das ist ein besonders interessantes Kapitel. Mit einer Impfkampagne ab 1918 „kroch der Staat den Menschen buchstäblich unter die Haut“, wie Van Reybrouck eindringlich formuliert: „Nicht nur die Landschaft wurde kolonisiert, auch der Körper und das Selbstbild.“ (S. 135) Nur wenige Europäer, etwa der flämische Franziskaner Placide Tempels, machten sich die Mühe, bei ihrem Blick auf Afrika auch einmal versuchsweise den Standpunkt der Afrikaner selbst einzunehmen. Für seine Einsicht, dass diese keine „großen Kinder“ seien, sondern „dass wir es mit einem voll entwickelten Menschentum zu tun haben“, einer „das ganze All umspannenden Weisheitslehre“, wurde Pater Tempels von seinen Oberen mit dem Exil bestraft (S. 248).


Schlüssig und detailreich zeichnet Van Reybrouck den Weg Kongos in eine überstürzte Unabhängigkeit. Bestechend ist seine Deutung, die einfachen Leute hätten in der „indépendance“ „eine Art messianisches Ereignis“, „eine kosmische Wende“ (S. 309) gesehen: „Nicht wenige glaubten, die Toten würden auferstehen.“ (S. 321) Wegen der zu spät begonnenen Entkolonialisierung habe das Riesenland aber im Moment der Unabhängigkeit 1960 nur ganze 16 Einheimische mit Uni-Diplom gehabt, darunter keinen einzigen Arzt, Juristen oder Ökonomen (S. 316). Die gleich nach der Unabhängigkeit dann einsetzende Katastrophe (Meuterei in der Armee, Massenflucht der Belgier, Verfassungskrise, Abspaltungen, Mord am Premierminister) wirkt dadurch gewissermaßen vorprogrammiert.


Besonders meisterhaft ist Van Reybroucks Schilderung der langen Mobutu-Diktatur, von den Hoffnungen des Anfangs bis zur Erstarrung des Regimes. Wie einst die Kolonialherren mit ihren Impf- und Hygienekampagnen sei auch Mobotus System „in die Intimität des Privatlebens eingedrungen“ (S. 419), urteilt der Autor; Widerstand habe sich nur in Comics oder der Mode artikulieren können – oder aber von seiten der katholischen Kirche. Ausführlich beschreibt er, wie Erzbischof Laurent Monsengwo von Kinshasa zeitweise als „der Desmond Tutu von Zaire“ (S. 474) auftrat: Allerdings war der Gottesmann, der zu Beginn der 90er Jahre eine Nationalkonferenz für die Erarbeitung einer neuen Verfassung leitete, nach Van Reybroucks Einschätzung zu zögernd und kompromißbereit.


Deprimierend, aber ausgesprochen klarsichtig ist das Bild des heutigen Kongo, das dieser außergewöhnliche Autor zeichnet. Es ist ein Land mit einem neuartigen Verkehrsschild („Langsam fahren – Flüchtlinge“); ein Land, in dem ein Junge, der eigentlich Priester werden will, vom Fußballplatz weg entführt und zum Dasein als Kindersoldat gezwungen wird (S. 499); ein Land, in dem die Biermarke, die den wichtigsten Popstar sponsert, mehr Macht und Geld in Händen hält als die gewählte Regierung; ein Land, das in vielem wieder an die Sklavenhändler-Zeit des 19. Jahrhunderts erinnert (S. 534). Es kann einen sehr nachdenklich machen, wenn Van Reybrouck feststellt, dass die immer noch andauernden Konflikte im Ostkongo (da, wo er an Uganda und Ruanda grenzt) zu einem „Knäuel“ verschiedener Kriege und Interessen geworden sind: „Mit seinen zahllosen Fusionen, Abspaltungen, Joint Ventures und Übernahmen ähnelt dieser neue Kriegstypus mehr der Geschäftswelt als dem herkömmlichen Krieg“ (S. 555). Und während nach seiner Beobachtung immer mehr Chinesen im Kongo präsent sind (und immer mehr Kongolesen in China), ziehen sich – auch das ist eine Beobachtung, die tief nachdenklich macht – die Europäer zurück. „In Kinshasa wächst eine Generation heran, für die Europäer exotischer sind als Chinesen. Es gibt im Kongo jetzt wieder Kinder, die noch nie einen Weißen in natura gesehen haben, so wie im späten neunzehnten Jahrhundert.“ (S. 626)


Ein tolles Buch – ganz großes Kino! Hier wird einem eine ganze Welt erschlossen.

Empfohlen von Stefan v. Kempis, Radio Vatikan







All the contents on this site are copyrighted ©.