David
Van Reybrouck, Kongo – eine Geschichte. Suhrkamp Taschenbuch, ca. 14 Euro.
„Kongo
– eine Geschichte“ von David Van Reybrouck ist von Medien wie dem „Spiegel“ oder der
„Süddeutschen“ hoch gelobt worden, und ich muß sagen: völlig zu Recht. Denn der belgische
Autor ist von Haus aus Dramatiker und weiß darum genau, wie man Lesern ein trockenes
Thema spannend nahebringt. Schon die ersten Abschnitte des Buches sind eine Art Kameraschwenk
von den Wellen des Atlantiks hinüber zur kongolesischen Küste, und in einem Kapitel
über Mobutu greift Van Reybrouck einmal ganz explizit zu filmischem Vokabular: „Auszoomen.
Kameraschwenk. Erneut kadrieren. Neuer Fokus: ... Grelles Sonnenlicht. Mobutu... Aufnahmen
seiner massiven Statur.“ (S. 432) Wann immer er kann, schaltet der Autor um in den
Reportage-Modus, besonders eindringlich bei seinen Gesprächen mit einem über hundertjährigen
Kongolesen über die Anfänge der Kolonialzeit und bei seinem Besuch im Lager des Rebellenführers
Laurent Nkunda. Sogar eine Tonspur hat dieses Buch, es ist der immer wieder heraufbeschworene
Rythmus der kongolesischen Musik, gemischt mit den Alltagsgeräuschen des Landes im
Lauf seiner Geschichte: „das Geräusch der Schlitztrommel“, „das dumpfe Wummern des
Tamtam“, „das Knallen der Peitsche“, „das Glockenläuten der Missionsstation“, „das
Knattern des Radios“, „das Stampfen von Maniok im Mörser“ (S. 650).
Besonders
interessant ist die Darstellung der Kolonialzeit. Als Stanley im 19. Jahrhundert Zentralafrika
„entdeckt“, ist er dort keineswegs der erste Ausländer, Sklavenhändler im Sold Sansibars
herrschen dort längst über die Bevölkerung. Übrigens wird Stanley, anders als heute
gängig, von Van Reybrouck nicht als „Erzrassist“ geschildert: „In Wirklichkeit war
seine Haltung viel ambivalenter“ (S. 68). Nicht zufällig, sondern aus politischen
Erwägungen europäischer Mächte heraus kommt dann das kleine Belgien auf der Berliner
Konferenz 1885 an seine Riesenkolonie: „Allgemein herrscht die Ansicht, dass dort
und damals die Aufteilung Afrikas vereinbart wurde“, so der Autor, „doch das war keineswegs
so. Die Konferenz war nicht der Ort, wo vornehme Herren in geselliger Runde den Kuchen
Afrika mit Zirkel und Lineal untereinander aufteilten. Nein, die Konferenz bezweckte
genau das Gegenteil: Afrika sollte für Freihandel und Zivilisation geöffnet werden.“
(S. 73) Und Belgiens König Leopold II. sollte denn auch schnell feststellen, dass
Kolonisieren unter einer solchen Prämisse „eine kostspielige Sache“ war (ebd.).
Immer
neue, überraschende Erkenntnisse verschafft uns Van Reybrouck in seinem Zeitengemälde.
Allerdings hätte ich mir eine genauere Charakterisierung Leopolds II. gewünscht. Von
vielen anderen Protagonisten in der kongolesischen Geschichte (allen voran dem Autokraten
Mobutu) liefert uns Van Reybrouck ein psychologisches Porträt, nicht aber von diesem
für die Geschichte des Landes doch so entscheidenden belgischen Herrscher. Ich verstehe
schon, dass er den Eurozentrismus in der Geschichtsschreibung des Kongo überwinden
will – aber da fehlen mir dann doch ein paar Pinselstriche. Und diese Perspektive
führt z.B. auch dazu, dass der Vater des Autors nach 370 Seiten – etwa der Hälfte
des Buches – wie aus dem Nichts auftaucht, ein Zeitzeugen-Gastspiel von wenigen Seiten
im Katanga der sechziger Jahre gibt... und dann ebenso spurlos wieder von der Bühne
verschwindet.
Aber das sind Petitessen, die diesen großen Wurf nicht beeinträchtigen.
Wie breit ist doch das Panorama, das Van Reybrouck vor uns entrollt! Was die christlichen
Kirchen betrifft, zum Beispiel. Von Beginn der Kolonialisierung an war die Kirche
– das wird in „Kongo, eine Geschichte“ sehr deutlich – eine der Stützen des Systems.
Überrascht wird der Leser dann aber sein, in welchem Ausmaß einheimische, schwarze
Katecheten „zum Brückenkopf zwischen zwei Welten“ (S. 94) wurden: Der frühere Sklave
Disasi gründete 1902 „einen der ersten schwarzen Missionsposten“ (ebd.), und mit der
Bewegung des „Propheten“ Simon Kimbagu entstand sogar eine einheimische Religion (mit
kräftigen Anleihen aus dem Christentum, aber eigenständig), der heute noch – wer hätte
das gedacht – etwa zehn Prozent der Bevölkerung angehören. Nicht so sehr katholische
oder protestantische Kirchen als vielmehr ein Wildwuchs an evangelikalen und messianischen
Pfingstkirchen prägen, wie Van Reybrouck deutlich macht, das heutige Kongo: Sogar
im chinesischen Guangzhou entdeckt er, im 31. Stock eines Hochhauses, eine solche
kongolesische Hauskirche, die eifrig – mit einem Chinesen am Keybord – um wirtschaftlichen
Erfolg betet (S. 643 f.). Bei den zahlreichen religiösen Fernsehstationen, die um
die Gunst der Kongolesen buhlen, fällt ihm vor allem das jugendliche Alter der Prediger
auf (S. 575).
Mit großer Entschiedenheit unterrichteten die katholischen
Missionare von außen während der Kolonialzeit in der Sprache der Einheimischen. „Die
meisten Missionare kamen aus Flandern“, so erklärt der Autor das, „und eingedenk des
Kampfes um das Flämische in Belgien betrachtete man die eigene Sprache als hohes Gut.“
(S. 141) Dass die Belgier die Menschen des Kongo (und auch anderswo, siehe Ruanda)
damals in ein strenges ethnisches Raster einteilten, sollte sich allerdings in der
Geschichte der Region der Großen Seen Afrikas bis heute immer wieder rächen. Ein schöneres
Erbe hinterließen katholische Missionare mit ihrer Begründung des Vereinslebens: Auf
den Scheutisten-Pater Raphael de la Kéthulle geht der erste Sportverein des Kongo
zurück, und das riesige Fußballstadion von Kinshasa, das er erbaute, trägt heute seinen
Namen (S. 211).
Schleichend, aber unaufhaltsam wurden die Menschen des
Kongo kolonisiert, und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus (damals
Kautschuk und Kupfer, heute Coltan), sondern oft auch im Namen des wissenschaftlichen
Fortschritts. Das ist ein besonders interessantes Kapitel. Mit einer Impfkampagne
ab 1918 „kroch der Staat den Menschen buchstäblich unter die Haut“, wie Van Reybrouck
eindringlich formuliert: „Nicht nur die Landschaft wurde kolonisiert, auch der Körper
und das Selbstbild.“ (S. 135) Nur wenige Europäer, etwa der flämische Franziskaner
Placide Tempels, machten sich die Mühe, bei ihrem Blick auf Afrika auch einmal versuchsweise
den Standpunkt der Afrikaner selbst einzunehmen. Für seine Einsicht, dass diese keine
„großen Kinder“ seien, sondern „dass wir es mit einem voll entwickelten Menschentum
zu tun haben“, einer „das ganze All umspannenden Weisheitslehre“, wurde Pater Tempels
von seinen Oberen mit dem Exil bestraft (S. 248).
Schlüssig und detailreich
zeichnet Van Reybrouck den Weg Kongos in eine überstürzte Unabhängigkeit. Bestechend
ist seine Deutung, die einfachen Leute hätten in der „indépendance“ „eine Art messianisches
Ereignis“, „eine kosmische Wende“ (S. 309) gesehen: „Nicht wenige glaubten, die Toten
würden auferstehen.“ (S. 321) Wegen der zu spät begonnenen Entkolonialisierung habe
das Riesenland aber im Moment der Unabhängigkeit 1960 nur ganze 16 Einheimische mit
Uni-Diplom gehabt, darunter keinen einzigen Arzt, Juristen oder Ökonomen (S. 316).
Die gleich nach der Unabhängigkeit dann einsetzende Katastrophe (Meuterei in der Armee,
Massenflucht der Belgier, Verfassungskrise, Abspaltungen, Mord am Premierminister)
wirkt dadurch gewissermaßen vorprogrammiert.
Besonders meisterhaft ist
Van Reybroucks Schilderung der langen Mobutu-Diktatur, von den Hoffnungen des Anfangs
bis zur Erstarrung des Regimes. Wie einst die Kolonialherren mit ihren Impf- und Hygienekampagnen
sei auch Mobotus System „in die Intimität des Privatlebens eingedrungen“ (S. 419),
urteilt der Autor; Widerstand habe sich nur in Comics oder der Mode artikulieren können
– oder aber von seiten der katholischen Kirche. Ausführlich beschreibt er, wie Erzbischof
Laurent Monsengwo von Kinshasa zeitweise als „der Desmond Tutu von Zaire“ (S. 474)
auftrat: Allerdings war der Gottesmann, der zu Beginn der 90er Jahre eine Nationalkonferenz
für die Erarbeitung einer neuen Verfassung leitete, nach Van Reybroucks Einschätzung
zu zögernd und kompromißbereit.
Deprimierend, aber ausgesprochen klarsichtig
ist das Bild des heutigen Kongo, das dieser außergewöhnliche Autor zeichnet. Es ist
ein Land mit einem neuartigen Verkehrsschild („Langsam fahren – Flüchtlinge“); ein
Land, in dem ein Junge, der eigentlich Priester werden will, vom Fußballplatz weg
entführt und zum Dasein als Kindersoldat gezwungen wird (S. 499); ein Land, in dem
die Biermarke, die den wichtigsten Popstar sponsert, mehr Macht und Geld in Händen
hält als die gewählte Regierung; ein Land, das in vielem wieder an die Sklavenhändler-Zeit
des 19. Jahrhunderts erinnert (S. 534). Es kann einen sehr nachdenklich machen, wenn
Van Reybrouck feststellt, dass die immer noch andauernden Konflikte im Ostkongo (da,
wo er an Uganda und Ruanda grenzt) zu einem „Knäuel“ verschiedener Kriege und Interessen
geworden sind: „Mit seinen zahllosen Fusionen, Abspaltungen, Joint Ventures und Übernahmen
ähnelt dieser neue Kriegstypus mehr der Geschäftswelt als dem herkömmlichen Krieg“
(S. 555). Und während nach seiner Beobachtung immer mehr Chinesen im Kongo präsent
sind (und immer mehr Kongolesen in China), ziehen sich – auch das ist eine Beobachtung,
die tief nachdenklich macht – die Europäer zurück. „In Kinshasa wächst eine Generation
heran, für die Europäer exotischer sind als Chinesen. Es gibt im Kongo jetzt wieder
Kinder, die noch nie einen Weißen in natura gesehen haben, so wie im späten neunzehnten
Jahrhundert.“ (S. 626)
Ein tolles Buch – ganz großes Kino! Hier wird einem
eine ganze Welt erschlossen.