Kirchenrichter Graulich: Franziskus unterstreicht ein „richtiges Verständnis von Pastoral“
„Vergesst nicht, dass ihr Hirten seid“, sagte der Papst in seiner diesjährigen Ansprache
vor der römischen Rota. Die im Vatikan angesiedelte Rota ist das zweithöchste Gericht
der katholischen Kirche und vor allem für Ehenichtigkeitsverfahren zuständig. Der
Papst habe in seiner ersten Ansprache an die Kirchenrichter die pastorale Seite des
Amtes betont, ohne aber einen völlig neuen Akzent zu setzen. Das findet Pater Markus
Graulich von der römischen Rota, der bei der Audienz teilgenommen hatte. Anne Preckel
hat mit ihm gesprochen.
Kirchenrecht und Seelsorge
bilden keinen Gegensatz, sagte der Papst. Wie haben Sie das verstanden, Pater Graulich?
„Ich
habe das so verstanden, wie es unsere Tradition ist: Dass das Kirchenrecht ein Mittel
der Seelsorge ist, die Pastoral muss sich zunächst einmal im Rahmen des Rechtes bewegen
und das Recht muss schauen, dass es der Pastoral helfen kann. Es gibt viele Berührungspunkte
zwischen Pastoral und Kirchenrecht, da gehört die Ehe mit dazu. Mich hat diese Aussage
des Papstes nicht überrascht, weil er nicht der erste Papst ist, der das sagt und
betont. Die anderen haben das in anderen Zusammenhängen gemacht. Papst Benedikt hat
zum Beispiel in seinen Ansprachen an die Rota immer sehr stark von der ,Wahrheit der
Ehe’ gesprochen, und hat da gesagt, eben in der Suche nach der Wahrheit im Hinblick
auf die konkrete Ehe begegnen sich dann Recht und Pastoral. Dann gibt es verschiedene
Ansprachen von Papst Johannes Paul II. über dieses Verhältnis von Recht und Pastoral
im Allgemeinen, und dann zwei von Paul VI., wo er diese pastorale, seelsorgliche Bedeutung
des Richteramtes gerade hervorhebt.“
Benedikt hatte mitunter auch vor allzu
viel Seelsorge in diesem Bereich gewarnt. „Haltungen der Gefälligkeit“ scheinen nur
pastoral, sagte er 2006, sie dienen aber nicht dem Wohl der Gläubigen. Setzt Franziskus
hier einen anderen Schwerpunkt?
„Er unterstreicht ein richtiges Verständnis
von Pastoral, wie es auch Papst Benedikt getan hat. Benedikt hat ja nicht gesagt,
der Richter ist nicht Hirte oder Seelsorger. Sondern er hat immer gesagt: Eine falsch
verstandene Pastoral wäre eine ,billige Gnade’ – so hätte das wohl Bonhoeffer gesagt.
Also zu sagen, ,Ach, ist ja nicht so schlimm, mach einfach weiter.’ Denn damit ist
ja auch keinem geholfen. Wenn ich jemandem, dessen Ehe gescheitert ist, sage: ,Komm
trotzdem zur Kommunion’ – dann ist dem letztlich nicht geholfen, dann kitte ich das
zu mit irgendwas. (…) Diese sehr starke Betonung von Franziskus ist es, (den Richtern)
zu sagen: ,Ihr seid zwar den ganzen Tag von Akten umgeben, aber vergesst nicht, dass
hinter jeder Akte, die ihr aufschlagt, ein Mensch steht’ – das ist seine Art, über
Dinge zu nachzudenken. Papst Benedikt hatte eben einen anderen Zugang zur Wirklichkeit.
Aber im Grunde ist das alles auf der gleichen Linie, weil es eben gegen die falsch
verstandene Pastoral geht.“
Im vergangenen Jahr sind vor der Rota mehr
Ehen für nichtig erklärt worden als in den Vorjahren. Um Missverständnissen vorzubeugen:
Dass die Verfahren bei der Eheannullierung jetzt „laxer“ werden sollen, hat Franziskus
in seiner Ansprache wohl kaum gemeint?
„Nein. Es hat einfach bei der Rota
aus verschiedenen Gründen einen Riesenüberhang an Fällen gegeben. Es waren im letzten
Jahr weit über tausend Fälle noch unbearbeitet; es sind Dinge nicht zeitnah behandelt
worden. Und wir haben im letzten Jahr eine sehr starke Anstrengung unternommen, die
Altfälle aufzuarbeiten. Und da sind eben über 400 Entscheidungen getroffen worden.
Aber es geht nicht um eine laxere Handhabung – Franziskus hat in anderen Zusammenhängen
zwar gesagt: ,Können wir den Eheprozess nicht schneller gestalten?’ Aber das ist ein
altes Thema.“
Franziskus hat ja eine Profilbeschreibung des Rota-Richters
gemacht, die v.a. die menschliche und pastorale Seite betont. Was muss ein solcher
Richter drauf haben?
„Er muss neben seiner Professionalität eben vor allem
diese Eigenschaft des Hirten haben, dass er sein Amt so versteht, dass es Teil der
Seelsorge ist, dass er teilnimmt an der Sorge des Papstes um die Menschen, an der
Sorge Jesu um die Menschen und dass er das Amt entsprechend versteht, indem er auf
die Menschen zugeht, die hinter den Akten stehen und sie im Blick behält - professionell
und barmherzig.“
An einer Stelle sagt der Papst, der Kirchenrichter sei
ein „Interpret des Gemeinschaftsgeistes“. Er stehe für eine Gerechtigkeit, die von
der konkreten Lebensrealität ausgeht. Ist das Franziskus besonders wichtig?
„Das
hat auch Papst Benedikt gemacht: Er hat ein Jahr etwa über die objektive Wahrheit
gesprochen – er hat gesagt: ,Ehe ist…’ Und dann hat er über die subjektive Wahrheit
gesprochen, hat gesagt: ,Im konkreten Fall muss man sehen: ,Entspricht das, was die
beiden Ehepartner leben, tatsächlich dem, was objektiv Ehe ist?’ Franziskus sieht
das jetzt etwas niederschwelliger – sagen wir mal, im neutralen Sinne – und sagt:
,Die Menschen, die heute eine Ehe schließen, die erfüllen vielleicht gar nicht alle
Erwartungen, die das Eherecht an eine gültige Eheschließung stellt.‘ (…) Da ist eben
Franziskus’ Akzent, die Realität wahrzunehmen und zu sagen: ,Der Mensch des 21. Jahrhunderts
ist eben nicht mehr der Mensch des Mittelalters, wo weitgehend unsere Ehegesetzgebung
herkommt.’”
Inwiefern gab es denn da schon eine Anpassung der Ehegesetzgebung?
„Das
hat die Rota-Rechtssprechung ja schon gemacht, indem man diese psychischen Eheunfähigkeiten
eingeführt hat, dass man gesagt hat: Es gibt Menschen, die nicht in der Lage sind,
sich für die Ehe zu entscheiden, aus Krankheitsgründen oder Gründen des Lebensumstandes.
Also das ist schon da, kann aber natürlich mehr werden.“
In welche Richtung
wird Franziskus denn Ihrer Meinung nach bei diesen Themen weitergehen?
„Er
hat die Kontinuität, aber ist natürlich pragmatischer. Benedikt ging es mehr um die
Grundfragen, dass das alles stimmt, und Franziskus geht es sehr um die Pragmatik.
Jetzt ist zu schauen, wie das mit der Synode weitergehen wird. Wird der Papst das
weiter verfolgen? Wie wird er mit der Rota umgehen, die ja sein Gericht ist? Denn
die Urteile, die wir fällen, sind ja praktisch im Namen des Papstes gefällt – die
Leute appellieren an den Papst. Und dafür sind die Rota-Ansprachen auch da: Der Papst
kann Weisungen geben, bestimmte Dinge unterstreichen. Wie er es eben in diesem Jahr
mit der pastoralen Seite getan hat. Aber wo die Reise hingeht, können wir besser sagen,
wenn die Synode vorbei ist...“