An diesem Sonntag, den 19. Januar, begeht die Kirche den Welttag des Migranten und
Flüchtlings. Wir wiederholen die zu diesem Tag verfasste Botschaft von Papst Franziskus,
die der Heilige Stuhl im vergangenen August publizierte. Der kirchliche Welttag der
Migranten und Flüchtlinge wurde erstmals 1914, also vor genau 100 Jahren, von Papst
Benedikt XV. unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs ausgerufen. Er erinnert heute
an das Schicksal von mehr als 40 Millionen weltweit Vertriebener.
BOTSCHAFT
VON PAPST FRANZISKUS ZUM WELTTAG DES MIGRANTEN UND FLÜCHTLINGS (2014): „Migranten
und Flüchtlinge: unterwegs zu einer besseren Welt“
Liebe Brüder und Schwestern,
wie nie zuvor in der Geschichte erleben unsere Gesellschaften Prozesse weltweiter
gegenseitiger Abhängigkeit und Wechselwirkung, die, obgleich sie auch problematische
oder negative Elemente aufweisen, das Ziel haben, die Lebensbedingungen der Menschheitsfamilie
zu verbessern, und zwar nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer
und kultureller Hinsicht. Jeder Mensch gehört ja der Menschheit an und teilt die Hoffnung
auf eine bessere Zukunft mit der gesamten Völkerfamilie. Aus dieser Feststellung geht
das Thema hervor, das ich für den diesjährigen Welttag des Migranten und Flüchtlings
gewählt habe: „Migranten und Flüchtlinge: unterwegs zu einer besseren Welt“.
Unter
den Ergebnissen der modernen Veränderungen ragt als ein „Zeichen der Zeit“ – so hat
Papst Benedikt XVI. es definiert (vgl. ) – das zunehmende Phänomen der menschlichen
Mobilität heraus. Wenn nämlich einerseits die Migrationen häufig Mängel und Versäumnisse
der Staaten und der Internationalen Gemeinschaft anzeigen, offenbaren sie andererseits
auch das Bestreben der Menschheit, die Einheit in der Achtung der Unterschiede, die
Aufnahmebereitschaft und die Gastfreundschaft zu leben, die eine gerechte Teilung
der Güter der Erde sowie den Schutz und die Förderung der Würde und der Zentralität
jedes Menschen erlauben.
Aus christlicher Sicht besteht auch in den Migrationserscheinungen
– wie in anderen Dingen, die den Menschen betreffen – die Spannung zwischen der von
der Gnade und der Erlösung geprägten Schönheit der Schöpfung und dem Geheimnis der
Sünde. Der Solidarität und der Aufnahmebereitschaft, den Gesten der Brüderlichkeit
und des Verständnisses stellen sich Ablehnung, Diskriminierung und die Machenschaften
der Ausbeutung, des Schmerzes und des Todes entgegen. Besorgnis erregend sind vor
allem die Situationen, in der die Migration nicht nur aus Zwang geschieht, sondern
sogar in verschiedenen Formen von Menschenhandel und Versklavung stattfindet. „Sklavenarbeit“
ist heute gültige Währung! Und doch ist das, was trotz der zu bewältigenden Probleme,
Risiken und Schwierigkeiten viele Migranten und Flüchtlinge treibt, die Kombination
aus Vertrauen und Hoffnung; sie tragen die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft im
Herzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Familien und für die Menschen,
die ihnen lieb sind.
Was bedingt die Schaffung einer „besseren Welt“? Dieser
Ausdruck spielt nicht naiv auf abstrakte Vorstellungen oder auf etwas Unerreichbares
an, sondern leitet vielmehr zur Bemühung um eine authentische, ganzheitliche Entwicklung
an und zum Handeln, damit es würdige Lebensbedingungen für alle gibt, damit den Bedürfnissen
der einzelnen Menschen und der Familien in rechter Weise entsprochen wird und damit
die Schöpfung, die Gott uns geschenkt hat, geachtet, bewahrt und gepflegt wird. Der
ehrwürdige Diener Gottes Paul VI. beschrieb die Bestrebungen der Menschen von heute
mit diesen Worten: »Freisein von Elend, Sicherung des Lebensunterhalts, Gesundheit,
feste Beschäftigung, Schutz vor Situationen, die seine Würde als Mensch verletzen,
ständig wachsende Leistungsfähigkeit, bessere Bildung, mit einem Wort: mehr arbeiten,
mehr lernen, mehr besitzen, um mehr zu gelten« (Enzyklika , 26 März 1967, 6).
Unser
Herz sehnt sich nach einem „Mehr“, das nicht einfach ein Mehr an Wissen oder an Besitz
ist, sondern vor allem bedeutet, mehr zu sein. Man kann die Entwicklung nicht auf
das bloße Wirtschaftswachstum reduzieren, das häufig verfolgt wird, ohne auf die Ärmsten
und die Schutzlosesten Rücksicht zu nehmen. Die Welt kann nur besser werden, wenn
die Hauptaufmerksamkeit dem Menschen gilt, wenn die Förderung der Person ganzheitlich
angelegt ist und alle ihre Dimensionen betrifft, einschließlich der geistigen; wenn
niemand vernachlässigt wird, auch nicht die Armen, die Kranken, die Gefangenen, die
Bedürftigen, die Fremden (vgl. Mt 25,31-46); wenn man dazu fähig ist, von einer Wegwerf-Mentalität
zu einer Kultur der Begegnung und der Aufnahme überzugehen.
Migranten und
Flüchtlinge sind keine Figuren auf dem Schachbrett der Menschheit. Es geht um Kinder,
Frauen und Männer, die aus verschiedenen Gründen ihre Häuser verlassen oder gezwungen
sind, sie zu verlassen, Menschen, die den gleichen legitimen Wunsch haben, mehr zu
lernen und mehr zu besitzen, vor allem aber mehr zu sein. Die Anzahl der Menschen,
die von einem Kontinent zum anderen ziehen, wie auch derer, die innerhalb ihrer Länder
und ihrer geographischen Gebiete einen Ortswechsel vornehmen, ist eindrucksvoll. Die
augenblicklichen Migrationsströme sind die umfassendsten Bewegungen von Menschen –wenn
nicht von Völkern –, die es je gegeben hat. Mit Migranten und Flüchtlingen unterwegs,
bemüht sich die Kirche, die Ursachen zu verstehen, die diese Wanderungen auslösen.
Zugleich arbeitet sie aber auch daran, die negativen Folgen der Wanderbewegungen zu
überwinden und ihre positiven Auswirkungen auf die Gemeinschaften an den Herkunfts-,
Durchreise- und Zielorten zu nutzen.
Leider können wir, während wir die Entwicklung
zu einer besseren Welt anregen, nicht schweigen über den Skandal der Armut in ihren
verschiedenen Dimensionen. Gewalt, Ausbeutung, Diskriminierung, Ausgrenzung und Einschränkungen
der Grundfreiheiten sowohl von Einzelnen als auch von Gemeinschaften sind einige der
Hauptelemente der Armut, die überwunden werden müssen. Vielmals kennzeichnen gerade
diese Aspekte die Migrationsbewegungen und verbinden Migration mit Armut. Auf der
Flucht vor Situationen des Elends oder der Verfolgung, um bessere Aussichten zu finden
oder mit dem Leben davonzukommen begeben sich Millionen von Menschen auf Wanderung,
und während sie auf die Erfüllung ihrer Erwartungen hoffen, stoßen sie häufig auf
Misstrauen, Verschlossenheit und Ausschließung und werden von anderen, oft noch schwereren
Formen des Unglücks getroffen, die ihre Menschenwürde verletzen.
Die Wirklichkeit
der Migrationen verlangt in den Dimensionen, die sie in unserer Zeit der Globalisierung
annimmt, eine neue angemessene und wirksame Art der Handhabung, die vor allem eine
internationale Zusammenarbeit und einen Geist tiefer Solidarität und ehrlichen Mitgefühls
erfordert. Wichtig ist die Zusammenarbeit auf den verschiedenen Ebenen, unter gemeinsamer
Anwendung der normativen Mittel, welche den Menschen schützen und fördern. Papst Benedikt
XVI. hat die Koordinaten dafür umrissen, als er betonte: »Eine solche Politik muss
ausgehend von einer engen Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern der
Migranten entwickelt werden; sie muss mit angemessenen internationalen Bestimmungen
einhergehen, die imstande sind, die verschiedenen gesetzgeberischen Ordnungen in Einklang
zu bringen in der Aussicht, die Bedürfnisse und Rechte der ausgewanderten Personen
und Familien sowie zugleich der Zielgesellschaften der Emigranten selbst zu schützen«
(Enzyklika , 19. Juni 2009, 62). Gemeinsam für eine bessere Welt zu arbeiten, erfordert
die gegenseitige Hilfe unter den Ländern, in Bereitschaft und Vertrauen, ohne unüberwindliche
Hürden aufzubauen. Eine gute Synergie kann für die Regierenden eine Ermutigung sein,
den sozioökonomischen Ungleichgewichten und einer ungeregelten Globalisierung entgegenzutreten,
die zu den Ursachen von Migrationen gehören, in denen die Menschen mehr Opfer als
Protagonisten sind. Kein Land kann den Schwierigkeiten, die mit diesem Phänomen verbunden
sind, alleine gegenübertreten; es ist so weitreichend, dass es mittlerweile alle Kontinente
in der zweifachen Bewegung von Immigration und Emigration betrifft.
Es ist
überdies wichtig hervorzuheben, dass diese Zusammenarbeit bereits mit der Anstrengung
beginnt, die jedes Land unternehmen müsste, um bessere wirtschaftliche und soziale
Bedingungen in der Heimat zu schaffen, so dass für den, der Frieden, Gerechtigkeit,
Sicherheit und volle Achtung der Menschenwürde sucht, die Emigration nicht die einzige
Wahl darstellt. Arbeitsmöglichkeiten in den lokalen Volkswirtschaften zu schaffen,
wird außerdem die Trennung der Familien vermeiden und den Einzelnen wie den Gemeinschaften
Bedingungen für Stabilität und Ausgeglichenheit garantieren.
Schließlich gibt
es im Blick auf die Wirklichkeit der Migranten und Flüchtlinge noch ein drittes Element,
das ich auf dem Weg des Aufbaus einer besseren Welt hervorheben möchte: die Überwindung
von Vorurteilen und Vorverständnissen bei der Betrachtung der Migrationen. Nicht selten
löst nämlich das Eintreffen von Migranten, Vertriebenen, Asylbewerbern und Flüchtlingen
bei der örtlichen Bevölkerung Verdächtigungen und Feindseligkeiten aus. Es kommt die
Angst auf, dass sich Umwälzungen in der sozialen Sicherheit ergeben, dass man Gefahr
läuft, die eigene Identität und Kultur zu verlieren, dass auf dem Arbeitsmarkt die
Konkurrenz geschürt wird oder sogar dass neue Faktoren von Kriminalität eindringen.
Auf diesem Gebiet haben die sozialen Kommunikationsmittel eine sehr verantwortungsvolle
Rolle: Ihre Aufgabe ist es nämlich, feste, eingebürgerte Vorurteile zu entlarven und
korrekte Informationen zu bieten, wo es darum geht, den Fehler einiger öffentlich
anzuklagen, aber auch, die Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und Seelengröße der Mehrheit
zu beschreiben. In diesem Punkt ist ein Wandel der Einstellung aller gegenüber den
Migranten und Flüchtlingen notwendig; der Übergang von einer Haltung der Verteidigung
und der Angst, des Desinteresses oder der Ausgrenzung – was letztlich genau der „Wegwerf-Mentalität“
entspricht – zu einer Einstellung, deren Basis die „Kultur der Begegnung“ ist. Diese
allein vermag eine gerechtere und brüderlichere, eine bessere Welt aufzubauen. Auch
die Kommunikationsmittel sind aufgerufen, in diese „Umkehr der Einstellungen“ einzutreten
und diesen Wandel im Verhalten gegenüber Migranten und Flüchtlingen zu begünstigen.
Ich
denke daran, wie auch die Heilige Familie von Nazareth am Anfang ihres Weges die Erfahrung
der Ablehnung gemacht hat: Maria »gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte
ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie
war« (Lk 2,7). Ja, Jesus, Maria und Joseph haben erfahren, was es bedeutet, das eigene
Land zu verlassen und Migranten zu sein: Vom Machthunger des Herodes bedroht, waren
sie gezwungen, zu fliehen und in Ägypten Zuflucht zu suchen (vgl. Mt 2,13-14). Aber
das mütterliche Herz Marias und das aufmerksam fürsorgliche Herz Josephs, des Beschützers
der Heiligen Familie, haben immer die Zuversicht bewahrt, dass Gott einen nie verlässt.
Möge auf ihre Fürsprache dieselbe Gewissheit im Herzen des Migranten und des Flüchtlings
immer unerschütterlich sein.
In der Erfüllung des Auftrags Christi, »Geht zu
allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern«, ist die Kirche berufen,
das Volk Gottes zu sein, das alle Völker umfasst und allen Völkern das Evangelium
verkündet, denn dem Gesicht eines jeden Menschen ist das Angesicht Christi eingeprägt!
Hier liegt die tiefste Wurzel der Würde des Menschen, die immer zu achten und zu schützen
ist. Nicht die Kriterien der Leistung, der Produktivität, des sozialen Stands, der
ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit begründen die Würde des Menschen, sondern
die Tatsache, dass er als Gottes Abbild und ihm ähnlich erschaffen ist (vgl. Gen 1,26-27),
und mehr noch, dass er Kind Gottes ist; jeder Mensch ist Kind Gottes! Ihm ist das
Bild Christi eingeprägt! Es geht also darum, dass wir als Erste und dann mit unserer
Hilfe auch die anderen im Migranten und im Flüchtling nicht nur ein Problem sehen,
das bewältigt werden muss, sondern einen Bruder und eine Schwester, die aufgenommen,
geachtet und geliebt werden müssen – eine Gelegenheit, welche die Vorsehung uns bietet,
um zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft, einer vollkommeneren Demokratie, eines
solidarischeren Landes, einer brüderlicheren Welt und einer offeneren christlichen
Gemeinschaft entsprechend dem Evangelium beizutragen. Die Migrationen können Möglichkeiten
zu neuer Evangelisierung entstehen lassen und Räume öffnen für das Wachsen einer neuen
Menschheit, wie sie im Ostergeheimnis angekündigt ist: eine Menschheit, für die jede
Fremde Heimat und jede Heimat Fremde ist.
Liebe Migranten und Flüchtlinge,
verliert nicht die Hoffnung, dass auch euch eine sicherere Zukunft vorbehalten ist;
dass ihr auf euren Wegen einer ausgestreckten Hand begegnen könnt; dass es euch geschenkt
wird, die brüderliche Solidarität und die Wärme der Freundschaft zu erfahren! Euch
allen sowie denen, die ihr Leben und ihre Energie der Aufgabe widmen, euch zur Seite
zu stehen, verspreche ich mein Gebet und erteile ich von Herzen den Apostolischen
Segen.