2013-10-20 12:47:37

Mexiko: Die Herberge der Illegalen


RealAudioMP3 „Brüder auf dem Weg“: So heißt eine Herberge, die der mexikanische Priester Alejandro Solalinde Guerra im Bundesstaat Oaxaca aufgezogen hat. Mit den Brüdern sind Migranten gemeint: sogenannte Illegale, die versuchen, über die Grenze in die USA zu gelangen. Auf ihrem Weg können diese Menschen aus Honduras, Guatemala, El Salvador oder Nicaragua bei Padre Alejandro auftanken, sozusagen. Ein Glück für sie, denn ansonsten lauern ihnen auf ihrem Weg oft organisierte Banden auf. Tausende Flüchtlinge kommen jedes Jahr in die Herberge, etwa ein Viertel von ihnen sind Frauen und Jugendliche, Tendenz steigend, auch viele Indios sind unter ihnen.

„Ich glaube, dass meine Herberge auf dem aufsteigenden Ast ist: Sie ist ein bißchen sicherer, und ich bin immer noch am Leben!“ Das sagt Pater Alejandro, weil er unlängst Todesdrohungen erhalten hat. Seitdem steht er unter Polizeischutz, und Amnesty International interessiert sich für ihn. „Wir sind in Mexiko etwa fünfhundert Menschen, Frauen und Männer, die für den Schutz der Menschenrechte arbeiten, indem wir Migranten ein Obdach für die Nacht bieten. Natürlich sind wir gefährdet, ebenso wie unsere Gäste. Mich rührt keiner an, weil ich mittlerweile bekannt bin, aber was die anderen betrifft, da kann man es nicht wissen.“

Die Menschen, die aus Lateinamerika nach Mexiko strömen, um den Sprung über die Grenze in den reichen Westen zu versuchen, sind oft hilflos allen möglichen Schikanen ausgesetzt. „Es wird alles schlimmer, weil sich die Lage in den Herkunftsländern der Migranten nicht verbessert, vor allem wenn wir von Honduras, Guatemala, El Salvador und Nicaragua reden, dort ist nichts besser geworden. Und Mexiko, das Transitland, bleibt weiter ein sehr gefährliches Pflaster: Die Banden, die den Übergang über die Grenze versprechen, haben sich darauf verlegt, aus den Migranten noch mehr Geld herauszuholen.“

Bis vor kurzem kam es immer wieder zu Geiselnahmen von Migranten; die Banden verlangten dann von den Familienangehörigen der Festgehaltenen ein Lösegeld. „Jetzt hat sich das geändert, weil es für die Regierungen Mexikos und der USA einfacher geworden ist, die Finanzströme nachzuvollziehen und zu wissen, wem da eine bestimmte Summe Lösegeld ausgezahlt wird. Darum verlangen diese Kriminellen jetzt von den Migranten, zu zahlen, sobald sie in den Zug gestiegen sind. Du hast kein Geld? Dann werfen wir dich aus dem fahrenden Zug!, so lautet die Drohung. Und das machen die dann auch. Ganz egal, ob das Kinder, Frauen oder alte Leute sind, sie werfen die aus dem fahrenden Zug.“

Auch beim Menschenhandel verzeichnet der Priester einen deutlichen Anstieg: „Nicht nur Migranten verschwinden, sondern auch Mexikaner. Viele Frauen haben ihre Kinder – vor allem Mädchen – verloren, weil die vom Schultor weg entführt werden. Die organisierte Kriminalität setzt auf sexuelle Ausbeutung. Es tut sehr weh, vor allem im Bundesstaat Veracruz so viele Kinder einfach verschwinden zu sehen. Die Mütter wissen nicht mehr, an wen sie sich wenden sollen, um ihre Kinder wiederzufinden, und die, die am meisten Glück haben, finden wenigstens den Leichnam wieder... Eigentlich funktionieren in Mexiko die legalen Prozeduren gegen den Menschenhandel, und das Gesetz bereitet den Kriminellen viel Kopfzerbrechen – aber leider gibt es viel Korruption, und darum klappt es nicht, alle juristischen Maßnahmen und Werkzeuge einzusetzen. Mafias kontrollieren die lateinamerikanischen Länder, Mexiko und den Süden der USA, sie kontrollieren die Grenzen. Und die Kartelle entscheiden, wer die Grenze überwindet und wer nicht.“

Padre Alejandro reist immer wieder mal nach Europa, um auf die verzweifelte Lage der Armutsflüchtlinge aus Lateinamerika aufmerksam zu machen. „Ich bin kein Politiker, noch nicht mal ein Aktivist – ich bin einfach nur ein Missionar. Aber mir liegen die Migranten sehr am Herzen; für mich war Jesus der berühmteste Migrant der Geschichte! Ich rate Europa, seine Brüder im Süden zu lieben, in den Migranten das Gesicht Jesu zu sehen und ihn aufzunehmen.“ Das Drama von Lampedusa, wo aus Afrika kommende Bootsflüchtlinge immer wieder mal vor der Haustür Europas ertrinken, ist dem mexikanischen Priester ein Begriff. „Die Menschen verlassen Afrika, weil sie vor einer extremen Gewalt, vor dem Krieg flüchten. Aber man vergißt leicht, dass auch fast alle Länder Mittelamerikas, aus denen unsere Migranten in Mexiko kommen – Nicaragua, Guatemala, El Salvador (nicht Honduras) – lange Kriege hinter sich haben. Kriege, deren Wunden sich noch nicht geschlossen haben, die Gewalt ist immer noch Alltag.“

Padre Alejandro bittet die Europäer um Solidarität mit den Armuts- und Kriegsflüchtlingen. Wer für ein Abebben der Migrantenströme eintrete, der solle etwas dafür tun, dass sich in den Herkunftsländern der Migranten die Lebensbedingungen verbessern, dass Arbeitsplätze dort entstehen und Möglichkeiten für ein würdiges Leben. „Wir wissen, dass von hundert Personen, die zu unserer Herberge kommen, nur dreißig Prozent es schaffen, in die USA zu kommen. Und diese dreißig Prozent schaffen es nur, weil sie den Kartellen, z.B. den Zetas, Geld gezahlt haben. Trotz der Mauer haben die Kartelle ihr System, um die Menschen herüberzubringen. Aber was pasiert mit den verbleibenden siebzig Prozent, die es nicht über die Grenze schaffen? Ein kleiner Teil kehrt zurück ins Ursprungsland; der andere Teil bleibt in Mexiko, einige finden Arbeit dort, andere rutschen in die organisierte Kriminalität hinein: Drogen, Entführungen, Überfälle... Die katholische Kirche hat immer gesagt, Migranten seien eine Gelegenheit, ein ‘kairos’. Ich glaube, wir alle sollten diese Gelegenheit nutzen, um vieles zu verstehen. Zum Beispiel, dass keiner Herr ist über irgendetwas. Dass wir alle Migranten sind.“

(rv 20.10.2013 sk)








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