„Brüder auf dem Weg“:
So heißt eine Herberge, die der mexikanische Priester Alejandro Solalinde Guerra im
Bundesstaat Oaxaca aufgezogen hat. Mit den Brüdern sind Migranten gemeint: sogenannte
Illegale, die versuchen, über die Grenze in die USA zu gelangen. Auf ihrem Weg können
diese Menschen aus Honduras, Guatemala, El Salvador oder Nicaragua bei Padre Alejandro
auftanken, sozusagen. Ein Glück für sie, denn ansonsten lauern ihnen auf ihrem Weg
oft organisierte Banden auf. Tausende Flüchtlinge kommen jedes Jahr in die Herberge,
etwa ein Viertel von ihnen sind Frauen und Jugendliche, Tendenz steigend, auch viele
Indios sind unter ihnen.
„Ich glaube, dass meine Herberge auf dem aufsteigenden
Ast ist: Sie ist ein bißchen sicherer, und ich bin immer noch am Leben!“ Das sagt
Pater Alejandro, weil er unlängst Todesdrohungen erhalten hat. Seitdem steht er unter
Polizeischutz, und Amnesty International interessiert sich für ihn. „Wir sind in
Mexiko etwa fünfhundert Menschen, Frauen und Männer, die für den Schutz der Menschenrechte
arbeiten, indem wir Migranten ein Obdach für die Nacht bieten. Natürlich sind wir
gefährdet, ebenso wie unsere Gäste. Mich rührt keiner an, weil ich mittlerweile bekannt
bin, aber was die anderen betrifft, da kann man es nicht wissen.“
Die Menschen,
die aus Lateinamerika nach Mexiko strömen, um den Sprung über die Grenze in den reichen
Westen zu versuchen, sind oft hilflos allen möglichen Schikanen ausgesetzt. „Es
wird alles schlimmer, weil sich die Lage in den Herkunftsländern der Migranten nicht
verbessert, vor allem wenn wir von Honduras, Guatemala, El Salvador und Nicaragua
reden, dort ist nichts besser geworden. Und Mexiko, das Transitland, bleibt weiter
ein sehr gefährliches Pflaster: Die Banden, die den Übergang über die Grenze versprechen,
haben sich darauf verlegt, aus den Migranten noch mehr Geld herauszuholen.“
Bis
vor kurzem kam es immer wieder zu Geiselnahmen von Migranten; die Banden verlangten
dann von den Familienangehörigen der Festgehaltenen ein Lösegeld. „Jetzt hat sich
das geändert, weil es für die Regierungen Mexikos und der USA einfacher geworden ist,
die Finanzströme nachzuvollziehen und zu wissen, wem da eine bestimmte Summe Lösegeld
ausgezahlt wird. Darum verlangen diese Kriminellen jetzt von den Migranten, zu zahlen,
sobald sie in den Zug gestiegen sind. Du hast kein Geld? Dann werfen wir dich aus
dem fahrenden Zug!, so lautet die Drohung. Und das machen die dann auch. Ganz egal,
ob das Kinder, Frauen oder alte Leute sind, sie werfen die aus dem fahrenden Zug.“
Auch
beim Menschenhandel verzeichnet der Priester einen deutlichen Anstieg: „Nicht nur
Migranten verschwinden, sondern auch Mexikaner. Viele Frauen haben ihre Kinder – vor
allem Mädchen – verloren, weil die vom Schultor weg entführt werden. Die organisierte
Kriminalität setzt auf sexuelle Ausbeutung. Es tut sehr weh, vor allem im Bundesstaat
Veracruz so viele Kinder einfach verschwinden zu sehen. Die Mütter wissen nicht mehr,
an wen sie sich wenden sollen, um ihre Kinder wiederzufinden, und die, die am meisten
Glück haben, finden wenigstens den Leichnam wieder... Eigentlich funktionieren in
Mexiko die legalen Prozeduren gegen den Menschenhandel, und das Gesetz bereitet den
Kriminellen viel Kopfzerbrechen – aber leider gibt es viel Korruption, und darum klappt
es nicht, alle juristischen Maßnahmen und Werkzeuge einzusetzen. Mafias kontrollieren
die lateinamerikanischen Länder, Mexiko und den Süden der USA, sie kontrollieren die
Grenzen. Und die Kartelle entscheiden, wer die Grenze überwindet und wer nicht.“
Padre
Alejandro reist immer wieder mal nach Europa, um auf die verzweifelte Lage der Armutsflüchtlinge
aus Lateinamerika aufmerksam zu machen. „Ich bin kein Politiker, noch nicht mal
ein Aktivist – ich bin einfach nur ein Missionar. Aber mir liegen die Migranten sehr
am Herzen; für mich war Jesus der berühmteste Migrant der Geschichte! Ich rate Europa,
seine Brüder im Süden zu lieben, in den Migranten das Gesicht Jesu zu sehen und ihn
aufzunehmen.“ Das Drama von Lampedusa, wo aus Afrika kommende Bootsflüchtlinge
immer wieder mal vor der Haustür Europas ertrinken, ist dem mexikanischen Priester
ein Begriff. „Die Menschen verlassen Afrika, weil sie vor einer extremen Gewalt,
vor dem Krieg flüchten. Aber man vergißt leicht, dass auch fast alle Länder Mittelamerikas,
aus denen unsere Migranten in Mexiko kommen – Nicaragua, Guatemala, El Salvador (nicht
Honduras) – lange Kriege hinter sich haben. Kriege, deren Wunden sich noch nicht geschlossen
haben, die Gewalt ist immer noch Alltag.“
Padre Alejandro bittet die Europäer
um Solidarität mit den Armuts- und Kriegsflüchtlingen. Wer für ein Abebben der Migrantenströme
eintrete, der solle etwas dafür tun, dass sich in den Herkunftsländern der Migranten
die Lebensbedingungen verbessern, dass Arbeitsplätze dort entstehen und Möglichkeiten
für ein würdiges Leben. „Wir wissen, dass von hundert Personen, die zu unserer
Herberge kommen, nur dreißig Prozent es schaffen, in die USA zu kommen. Und diese
dreißig Prozent schaffen es nur, weil sie den Kartellen, z.B. den Zetas, Geld gezahlt
haben. Trotz der Mauer haben die Kartelle ihr System, um die Menschen herüberzubringen.
Aber was pasiert mit den verbleibenden siebzig Prozent, die es nicht über die Grenze
schaffen? Ein kleiner Teil kehrt zurück ins Ursprungsland; der andere Teil bleibt
in Mexiko, einige finden Arbeit dort, andere rutschen in die organisierte Kriminalität
hinein: Drogen, Entführungen, Überfälle... Die katholische Kirche hat immer gesagt,
Migranten seien eine Gelegenheit, ein ‘kairos’. Ich glaube, wir alle sollten diese
Gelegenheit nutzen, um vieles zu verstehen. Zum Beispiel, dass keiner Herr ist über
irgendetwas. Dass wir alle Migranten sind.“