Christen sind in Ägypten
das schwächste Glied in der Kette. Kein Wunder, dass sie besonders darunter zu leiden
haben, wenn die Ägypter jetzt an den Ketten rütteln. Vor allem wütende Muslimbrüder
verüben in diesen Wochen immer wieder Anschläge auf koptische Kirchen und Einrichtungen;
viele koptische Christen sind jetzt in Panik und sagen, sie würden so stark diskriminiert
wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Mahmud Azab ist der Verantwortliche für interreligiösen
Dialog der Universität al-Azhar von Kairo. Wir sprachen mit ihm über die Lage der
Kopten.
„Ich bin Mitglied in vielen Gremien, die Ägypten auf die Zukunft
vorbereiten. Und jedes Mal sehe ich, dass die Kopten – die Christen – exakt die Hälfte
bei jeder Delegation stellen. Die Kopten sind ausgesprochen präsent, und auch ihre
großen Intellektuellen werden sehr gehört, ihre Wortmeldungen sind in der Regel sehr
klar. Wir sind vollkommen einverstanden mit der Vorstellung, dass alle Bürger – also
Citoyens – mit gleichen Rechten sind. Darauf baut alles auf. Als Kopten oder Muslime
sind wir doch alle ägyptische Bürger und somit alle gleich: Das ist die Gleichheit
vor dem Gesetz.“
Citoyens, gleichberechtigte Staatsbürger – das ist die
Zauberformel, die Bischöfe aus dem ganzen Nahen Osten auf einer Sondersynode im Vatikan
Ende 2010, kurz vor Ausbruch des Arabischen Frühlings, gefunden hatten, um ihre Wunschrolle
in ihrer Region zu beschreiben. Also nicht „Minderheit“ und erst recht nicht „säkular“,
weltlich, „laikal“. Das Wort, das sich im Deutschen so harmlos anhört, hört sich für
die meisten Menschen in Nahost gleichbedeutend mit „gottlos“ an:
Ständige
Absprachen mit Kopten im Verfassungsrat
„Das Wort laïc –
laikal – hat bei uns eine sehr schlechte Reputation. Wenn Sie es in der arabischen
Welt in den Mund nehmen, dann klingt das, als wären Sie generell gegen die Religionen.
In Frankreich, in Europa mag dieser Begriff angehen, aber die Ägypter sind sehr gläubige
und ihren Glauben praktizierende Menschen, ganz gleich ob Muslime oder Christen. In
einer Erklärung von al-Azhar, die wir – Christen und Muslime – zusammen geschrieben
haben, heißt es: Wir wollen ein geeintes Land, einen demokratischen, modernen Verfassungsstaat.“
An
der Verfassung des neuen Ägypten wird gerade geschrieben; der Juliputsch gegen den
demokratischen Präsidenten Mohamed Mursi, einen Muslimbruder, hat auch die von ihm
durchgesetzte Verfassung schnell obsolet erscheinen lassen. Anders als bei Mursis
Text formulieren an der neuen Verfassung auch koptische Christen, darunter ein Bischof,
im Auftrag ihrer Kirche mit.
„Wir arbeiten Tag und Nacht. Die Delegation
der al-Azhar im Gremium, das die Verfassung ausarbeitet, trifft sich sehr häufig erst
einmal mit der Delegation der Kirche, bevor wir ins Plenum gehen und mit allen fünfzig
Mitgliedern zusammen diskutieren. Schon von Anfang an waren al-Azhar und Kopten sehr
nah beieinander, was die Werte für Ägypten, die ägyptische Identität betrifft. Ägypten
ist ein zivilisiertes, seit Jahrtausenden tolerantes Land – es muss auf diesem Weg
weitergehen.“
Probleme zwischen Muslimen und Kopten meist aus politischen
Gründen
Die einjährige Präsidentschaft Mursis, während der die im Parlament
dominierenden Muslimbrüder viele ihrer Projekte durchsetzen konnten, hat die hergebrachte
religiöse Toleranz in Ägypten auf eine harte Probe gestellt. Nach ihrer Entmachtung
– die Muslimbruderschaft soll ja sogar in Ägypten wieder verboten werden – wendet
sie sich in ihrem Zorn nun vor allem gegen die Christen. Längerfristig aber haben
die Kopten vielleicht die besseren Karten: Im Treibhaus der vom Militär hergestellten
neuen Verhältnisse können sie an den Fundamenten des künftigen Ägypten mitbauen.
„al-Azhar
hat ein so genanntes Haus der ägyptischen Familie gegründet – das ist ein Projekt
des Imam von al-Azhar, um die Einheit Ägyptens zu schützen. Muslime wie Christen machen
da mit, nicht nur die koptisch-orthodoxe Kirche, sondern auch die drei anderen anerkannten
christlichen Kirchen mit ihren Führern, und dazu viele engagierte Muslime und Christen,
die keine Geistlichen sind. Die Ziele sind zweierlei: erstens eine gemeinsame Sprache
zu führen, die die großen muslimischen und christlichen Werte herausstreicht, die
Besonderheiten Ägyptens als Land des Friedens seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden.
Und zweitens: die Probleme und Missverständnisse zwischen Muslimen und Christen untersuchen,
die wahren Gründe dafür. Da stellt sich dann schnell heraus, dass die Probleme in
Wirklichkeit oft politischer Natur sind und dass das Religiöse nur vorgeschoben war!“
Hört
sich gut an. Allerdings: Es ist ja nicht so, als würde man im Orient das Religiöse
so strikt vom Politischen trennen. Beide Faktoren bilden in Nahost gewöhnlich ein
Knäuel, zusammen mit Stammesinteressen und Gruppen-Loyalitäten. Aber al-Azhar ist
offenbar daran gelegen, weiterhin als moderate Stimme in Erscheinung zu treten. Mahmud
Azab setzt sich deutlich ab von Ägyptens islamistischem Experiment.
„Wir
stellen uns allen entgegen, die die Wahrheiten über Ägypten vergessen, leugnen oder
ignorieren! Das ist ein ziviles und zivilisiertes Volk, das in Frieden leben will,
seinen Glauben hat – muslimisch und christlich, das nicht fanatisch ist und die Religion
nicht überall reinvermengt. Der Respekt vor dem Staat und seinen Einrichtungen darf
nicht von einer Gruppe oder Partei, ob religiös oder nicht, für die eigenen Zwecke
eingesetzt werden. Also, alles, was sie zu tun versucht haben, stößt auf unseren Widerstand
– nicht weil wir die Entscheider wären, sondern weil das ägyptische Volk das am 30.
Juni so entschieden hat!“
Staatsstreich: Der Westen will die Wahrheit
nicht zur Kenntnis nehmen
Hunderttausende von Menschen hatten am 30.
Juni in Kairo gegen Mursi und sein Kabinett demonstriert; vier Tage später nahm das
Militär die Demos zum Anlass, um den Präsidenten aus dem Amt zu hieven und ein Übergangsregime
zu installieren. „Das sah vielleicht so aus wie ein Staatsstreich, aber es war keiner“,
beteuert der koptisch-katholische Patriarch Ibrahim Isaak Sedrak: Die Menschen hätten
die Armee sozusagen zu Hilfe gerufen, weil Mursi sich gegen die Forderung nach Neuwahlen
stemmte, und die Muslimbrüder hätten es auf die Streichung ganzer Epochen aus den
Schulbüchern abgesehen gehabt. In Wirklichkeit sei da ein Kampf um die Identität Ägyptens
und seine Werte im Gang gewesen. Das sieht der Vertreter der al-Azhar-Universität
von Kairo ähnlich:
„Leider will der Westen diese Wahrheiten nicht zur Kenntnis
nehmen! Ich habe für dieses Unverständnis nichts übrig. Wenn wir versuchen, bei uns
die Dinge zu verbessern und die Gewalt zu stoppen, dann erklärt man uns im Namen der
Demokratie mit erhobenem Zeigefinger, wir dürften nichts gegen diejenigen tun, die
zerstören oder den Ägyptern Böses zufügen wollen. Der Westen sollte lieber kohärent
sein: Er sollte Ägypten helfen, sich zu öffnen, damit Muslime und Christen ihre wahre
Identität wiederfinden.“
Die al-Azhar-Uni in Kairo wurde im 10. Jahrhundert
gegründet, sie ist also eine der ältesten der Welt. Zusammen mit Lehrstätten im marokkanischen
Fes und im tunesischen Tunis stellt sie die wichtigste Autorität im sunnitischen Islam
dar. Etwa 18.000 Studenten aus der ganzen islamischen Welt studieren hier, Papst Johannes
Paul II. hat sie besucht – doch ihr offizieller Dialog mit dem Vatikan liegt seit
dem Frühjahr 2011 auf Eis.