2013-10-12 09:23:43

Radio Vatikan Buchtipp: Hellmut Flashar, Aristoteles


Hellmut Flashar, Aristoteles – Lehrer des Abendlandes, C.H. Beck Verlag, ca. 27 Euro, empfohlen von Stefan v. Kempis (Radio Vatikan) am 12.10.2013

Im November 1915 führt der Philologe Hermann Diels auf einer Sitzung der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen Wasserdruck-Apparat vor, der einen „durchdringenden Pfiff“ von sich zu geben vermag. Gebaut hat er ihn mithilfe seines Sohns, eines späteren Chemie-Nobelpreisträgers, und unter den Gelehrten, die sich über das Pfeifen wundern, ist auch Albert Einstein. Der Pfeif-Apparat ist ein Nachbau: Mit dem Original weckte einst, zwei Jahrtausende zuvor, der Philosoph Platon in seiner Akademie in Athen seine Schüler aus dem Schlaf, unter ihnen den Aristoteles.

Das ist nur eine von vielen interessanten Geschichten, die Hellmut Flashar in seinem Buch „Aristoteles, Lehrer des Abendlandes“ erzählt. Der Klassische Philologe (also nicht Philosoph) Flashar war vier Jahrzehnte lang Herausgeber der deutschen Aristoteles-Gesamtausgabe – aber er hat trotz seines gebündelten Wissens eine leicht lesbare Einführung in Leben und Werk des Aristoteles geschrieben. Der Leser gerät ins Staunen und erfährt viel Neues: etwa, dass schon eine zeitgenössische Inschrift am Orakel von Delphi den Aristoteles erwähnt. Dass der Denker – Flashar belegt das an seinem Testament, dessen Text sich erhalten hat – keineswegs so nüchtern-kaltherzig war, wie seine Schriften gelegentlich wirken. Oder, dass es nicht nur von Platon ein Höhlengleichnis gibt, sondern auch von seinem Schüler Aristoteles. Ein Gleichnis allerdings, das sich von dem des Lehrers „geradezu provozierend“ absetzt. Wie auf dem berühmten Raffael-Fresko im Vatikan (und wie in der Darstellung Goethes) wird bei Flashar ein Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles deutlich: Platon steht aus seiner Sicht „bis in die Gegenwart in der Gefahr einer wissenschaftsfernen, quasi-religiösen Überhöhung“, während „das Werk des Aristoteles dagegen das des gesunden Menschenverstandes“ sei, „gepaart mit dem Ethos des ernsten Forschers“.

Aristoteles war in vielem der Erste, zum Beispiel hat er als erster eine „Ethik“ im Sinn eines „abgegrenzten Teilgebietes der Philosophie“ verfasst. Aber wer wusste schon, dass das gleich mehrere verschiedene Ethiken aus seiner Feder waren, die fast ganz unabhängig voneinander argumentieren? Oder dass Ethik für ihn zur politischen Wissenschaft gehörte? Wem war klar, dass der Begriff „Metaphysik“ eher zufällig aufkam, weil der erste Herausgeber der Schriften des Aristoteles eben die entsprechenden Abhandlungen gleich „nach der Physik“, „tà metà tà physiká“, einordnete? Logisch stringent, vor allem aber immer nachvollziehbar schildert der Autor, das das Glück für Aristoteles „in der Tätigkeit (energeia) im Sinn des ethisch wertvollen Handelns“ lag und nicht etwa in der Lust. Flashar beschreibt zunächst den Stand der Philosophie vor Aristoteles; dann stellt er dessen Werke vor, und schließlich umreißt er deren Fortwirkung durch die Jahrhunderte bis heute. Am Anfang aller Philosophie, so schreibt er, stand für Aristoteles das „Staunen“. Dieses Staunen führt zu der Suche nach Erklärungen; mit diesem Ansatz steht Aristoteles denn doch in der Tradition Platons und seiner anderen Vorgänger im Philosophieren.

Für uns ist natürlich besonders interessant, wie ausführlich und genau Flashar die aristotelische Theorie vom „ersten Beweger“ allen Seins, also seine Theologie wiedergibt. Dabei wird deutlich, dass Aristoteles hier doch letztlich von der „Argumentationsstruktur“ „im Rahmen eines Denkgehäuses“ verbleibt, „das Platon vorgegeben hat“. Anders bei der „Psychologie“, also der (von Platon stark geprägten) Seelen-Lehre: Hier arbeitet der Autor vor allem die Eigenständigkeit im Ansatz des Aristoteles, Seele und Körper konsequent zusammenzudenken, heraus.

Das Schlusskapitel zur Rezeption des Aristoteles hätte ich mir noch ausführlicher gewünscht: Es ist nämlich bis heute kaum bekannt, dass bei der Übersetzung von aristotelischen Schriften ins Arabische, wie sie ab dem 7. Jahrhundert gängig war auch „einige Schriften entstanden, die dem Aristoteles zugeschrieben wurden und auch lange Zeit als aristotelisch galten“. Selbst Albertus Magnus fiel auf einen solchen arabischen Pseudo-Aristoteles herein. Zu einem so genannten „Buch vom Apfel“ schreibt Flashar: „Die Schrift war gegen Ende des 10. Jahrhunderts in einer (verlorenen) arabischen Version verbreitet, die dann ins Hebräische und schließlich unter König Manfred von Sizilien kurz nach 1250 ins Lateinische übersetzt wurde. Sie wurde viel gelesen und in alten Ausgaben dem Werk des Aristoteles vorangestellt.“ Wirklich, darüber hätte ich gerne noch mehr erfahren!

Alles in allem: Flashars „summa“ ist ein spannendes, gut geschriebenes Buch, in dem man unglaublich viel über die Grundlagen unseres Denkens und auch Glaubens erfährt.

(rv 12.10.2013 sk)








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