Militärputsch in Chile vor 40 Jahren: Versöhnung ist kein leichtes Wort
In Chile wird in diesen Tagen viel von „Versöhnung“ gesprochen. Doch im Kontext des
40. Jahrestages des Staatsstreiches kommen bei vielen Menschen eher andere Gefühle
wieder hoch: Trauer und Leere, Wut und Verzweiflung. In Santiago gingen in diesen
Tagen Tausende Menschen auf die Straße, um an die etwa 1.200 Menschen zu erinnern,
von denen bis heute jede Spur fehlt – eine offene Wunde für Angehörige und Überlebende
bis heute. Radio Vatikan hat mit Landsleuten gesprochen, die die Zeit der Militärdiktatur
aus erster Hand kennen.
In einer letzten Rede
richtet sich Präsident Salvador Allende am 11. September 1973 an sein Volk: „Liebe
Freunde, das ist die letzte Möglichkeit für mich, zu euch zu sprechen. (…) In diesem
historischen Moment zahle ich für die Treue meinem Volk gegenüber mit dem Leben. (…)
Sozialer Fortschritt kann weder durch Verbrechen noch Macht aufgehalten werden. (…)
Lang lebe das chilenische Volk!“
Nach der Machtergreifung durch das chilenische
Militär und Allendes Tod sollte eine der schrecklichsten Diktaturen Lateinamerikas
beginnen: Während der Militärregierung unter General Augusto Pinochet von 1973 bis
1990 wurden über 3.000 Menschen ermordet, Tausende wurde von Sicherheitskräften und
Angehörigen des Militärs gefoltert, viele weitere wurden ins Exil gezwungen. 40 Jahre
danach ringt Chile immer noch um die Aufarbeitung der Hypothek aus der Vergangenheit.
Viele Zeitzeugen von damals sind heute noch am Leben, unterstreicht der Chilene Luis
Badilla Morales, Mitarbeiter bei Radio Vatikan:
„Diese Menschen haben sehr
gelitten, sie haben ihre Kinder, Ehemänner und Ehefrauen verloren. Es gibt Familien,
die aufgrund des Exils auseinandergerissen wurden, und es gibt solche, die danach
aus wirtschaftlichen Gründen ausgewandert sind. Es gibt also einen tiefen Schmerz,
fast ein bestimmtes innerliches Leiden, das sich in den Zeitungen und Fernsehprogrammen
wiederspiegelt.“
Bis Chile einen Schlussstrich unter dieses düstere Kapitel
seiner Geschichte ziehen kann, wird es wohl noch dauern. „Lasst die Traumata der Vergangenheit
hinter euch“, forderte Staatschef Sebastián Piñera seine Landsleute anlässlich des
40. Jahrestages des Staatsstreiches auf. Die Tochter des 1973 gestürzten Präsidenten,
Isabel Allende, unterstrich allerdings mit Verweis auf die „desaparecidos“,
die im Schlund der Diktatur Verschwundenen: „An erzwungene Versöhnung glaube ich nicht“.
Chiles Erinnerungspolitik ist im Volk nicht unumstritten; Unmut löst vor allem das
bis heute gültige Amnestiegesetz aus, das Straffreiheit für Verbrechen vorsieht, die
zwischen 1973 und 1978 begangen wurden. An welchem Punkt der Vergangenheitsbewältigung
sieht das Land unser Kollege Luis Badilla?
„Ich glaube, dass es da sehr
vorangekommen ist. Denn durch die historischen Studien der auf Pinochet folgenden
demokratischen Regierungen konnten – zusammen mit politischen und zivilen Autoritäten
sowie den christlichen Kirchen, die in der Verteidigung der Menschenrechte engagiert
sind – Daten rekonstruiert werden. Doch das allein bringt wenig, denn der Schmerz
ist da, diejenigen sind da, die Papst Franziskus ,Fleisch Christi‘ nennen würde. Wie
auch die Bischöfe in diesen 40 Jahren unterstrichen haben: Diesen Schmerz kann man
nur mit Wahrheit – möge sie auch schmerzhaft sein – und mit Gerechtigkeit und Versöhnung
lindern.“
Wenn die katholische Kirche in Chile heute Wahrheit, Gerechtigkeit
und Versöhnung hochhält, ist das keine Augenwischerei. Während im Nachbarland Argentinien
Teile des Klerus den Staatsterrorismus der 1970er und 80er Jahre rechtfertigten, wurde
die katholische Kirche im Nachbarland überwiegend zur moralischen Opposition. Der
Vatikan zeigte sich nach der Machtergreifung der Militärs in Chile beunruhigt: Erzbischof
Giovanni Benelli, damals Substitut im Staatssekretariat, schrieb am 18. Oktober 1973
an US-Außenminister Henry Kissinger, die öffentliche Meinung im Westen gebe die Realität
in Chile nach dem Putsch „komplett falsch“ wider, der Papst sei „tief besorgt“. Zu
diesem Zeitpunkt war Chiles katholische Kirche im Land selbst schon längst aktiv.
Badilla:
„Es waren die Kirchen – vor allem die katholische Kirche –, die
für viele Jahre, ja Jahrzehnte, den einzigen realen Zufluchtsort darstellten und die
Würde und Rechte der Schwächsten schützten.“
Die chilenische Journalistin
und Schriftstellerin Patricia Mayorga kann das bestätigen. Sie hat selbst miterlebt,
wie die Luftwaffe am 11. September 1973 in Santiago das Radio Magallanes bombardierte
und der Schrecken begann.
„Die katholische Kirche hat damals kurz nach
dem Putsch mit dem damaligen Erzbischof von Santiago, dem Salesianer-Kardinal Raul
Silva Henriquez, ein Komitee (das ,Ökumenische Komitee für den Frieden‘, Anm. d. Red.)
gebildet, dem die christlichen Kirchen und die jüdische Glaubensgemeinschaft beigetreten
sind, um den Verfolgten zu helfen. Im Oktober 1973 wurde dann das ,Solidaritäsvikariat‘
gegründet. Es gab an Familien ohne Arbeit und Geld zunächst materielle Hilfe. Diese
Hilfe entwickelte sich in der Folgezeit auch zum rechtlichen Beistand, vor allem als
man erfuhr, dass Personen verhaftet wurden, und als man von diesen Menschen keinerlei
Nachrichten mehr hatte. Einige hat man ja nie wiedergesehen.“
Das „Vikariat
der Solidarität“ an der „Plaza de Armas“, dem „Platz der Waffen“, galt damals als
Hauptanlaufstelle für die Ofer der Militärdiktatur. Dank der kirchlichen Hilfsarbeit
konnten Tausende von Menschen gerettet werden, auch Hinterbliebene erhielten hier
Unterstützung und vor allem auch juristische Hilfe: Minutiös wurden Menschenrechtsverletzungen
dokumentiert und man versuchte, Folteropfer auf rechtlichem Wege freizubekommen. Die
katholische Kirche gilt aufgrund dieser Arbeit in Chile heute deshalb als einzige
Institution des Landes mit einer relativ vollständigen Dokumentation über die Verbrechen
der Pínochet-Ära.