Franziskus hat am
Mittwochabend (Ortszeit) in Rio das Krankenhaus „Sao Francisco de Assis na Providencia
de Deus“ besucht. In der sanitären Einrichtung weihte der Papst eine neue Abteilung
auf vier Etagen für die Betreuung drogenabhängiger Jugendlicher ein. Dabei sprach
er die Gewalt- und Drogenproblematik in Brasilien an: Das Übel des Drogenhandels,
das Gewalt fördere und Schmerz und Tod säe, erfordere ein mutiges Handeln der ganzen
Gesellschaft, so der Papst, der an die jungen Erwachsenen appellierte, sich „nicht
die Hoffnung stehlen zu lassen“.
Gewalt war im Rahmen des Weltjugendtages
am selben Tag auch Thema auf dem internationalen politischen Forum „Youth Hearing“.
Flávio Giovenale, Präsident der Caritas Brasilien und Bischof der Diözese Santarém
im weitläufigen Amazonien, referierte dort über die erschreckend hohe Gewaltstatistik
in Brasilien: 40.000 Todesopfer jedes Jahr, darunter viele junge Menschen, Arme und
männliche Opfer, so der Geistliche, der aufgrund seines unbequemen Einsatzes für die
Gerechtigkeit selbst in ständiger Lebensgefahr lebt. Im Interview mit Anne Preckel
berichtet der Missionar von seinen Erfahrungen im Kampf gegen Korruption und Ungerechtigkeit
, aber auch über pastorale Herausforderungen in einem Bistum. Papst Franziskus schlägt
für den Salesianer in der Kirche ein neues Kapitel auf: „Er erlaubt uns, wiederdurchzuatmen",
so der italienischstämmige Geistliche. Dass sich der erste Besuch eines lateinamerikanischen
Papstes in Brasilien an die Jugend richte, sei eine „Botschaft für die Welt“, so Giovenale.
Sie
haben im Podiumsgespräch die Gewaltproblematik angesprochen und haben leider ja auch
selbst Erfahrungen damit gemacht. Können Sie davon erzählen?
„In der Diözese,
in der ich jetzt bin seit sieben Monaten, ist es ein Klima der Gewalt. Schlimmere
Erfahrungen habe ich dort gemacht, wo ich vorher war (in Abaetetuba, Pará). In diesen
15 Jahren gab es viel Arbeit, denn es war eine Drogenzone, eine Gegend des nationalen
und internationalen Drogenhandels. Dort gibt es auch sehr viel Gewalt der Polizei,
die nicht qualifiziert und vorbereitet ist. Es gibt also viele Fälle des Missbrauchs
und der Folter, um Geständnisse von Leuten zu bekommen. Ich erinnere mich an zwei
Fälle:
Einmal musste ich zu Hause zwei junge Leute beschützen, die
dort versteckt wurden, bis der Richter sie befragen konnte. Sie hatten ein Geständnis
unter Folter unterzeichnet. Die Polizisten wollten sie töten, damit sie sich retten
konnten, denn durch ihr Geständnis hätten sie zwei andere Leute festnehmen können.
Und diese Banditen waren es eigentlich, die die Polizei wollte, nicht die beiden Jugendlichen.
Und ich wusste das, konnte aber nicht erlauben, dass sie zwei falsche Zeugen töteten.
Der
andere Fall fand ein großes nationales Echo hier in Brasilien. Wir haben entdeckt,
dass im Kommissariat ein Mädchen von 15 Jahren in einer Zelle mit 30 Männern eingesperrt
war. Und das aus Rache; denn dieses Mädchen war in das Haus eines Polizisten eingedrungen,
das offen stand, und hatte ein Handy geklaut, um es zu verkaufen und mit dem Geld
an Drogen zu kommen. Sie haben ihr erst mit einem Messer die Haare abgeschnitten und
haben sie dann in diese Zelle gesperrt, bis es eine Anzeige gab von einem, der mit
in der Zelle gesessen hatte. Wir haben den Fall gelöst, aber die beiden Frauen, die
den Fall im Auftrag des Schutzrichters bearbeiteten und ich selbst auch – wir wurden
lange Zeit mit dem Tode bedroht. Das ist Jahre her und es ist bis heute nichts passiert
– die Bischofskonferenz hat stark reagiert und Schutz eingefordert. Dennoch gibt es
immer einen Verdacht, denn die letzte Drohung war: ,Wir warten, bis sich der Staub
etwas legt, und dann sehen wir weiter.‘
Die Rolle der Polizei in Brasilien
wird aktuell kontrovers diskutiert, weil es bei einer Demonstration in Rio Übergriffe
auf Demonstranten gab, die viele als überproportional bewerteten. Auf dem Podium hier
gerade wurde die Rolle der Militärpolizei kritisch beleuchtet. Ist Brasiliens Polizei
reformbedürftig? Geht sie souverän mit den Protesten um?
„Wir haben hier
im Unterschied zu Europa zwei verschiedene Polizeiformen. Neben dem Militär gibt es
hier die Militärpolizei und die Zivilpolizei. Eine Idee ist, beide zu verbinden und
den militärischen Aspekt von Polizisten wegzunehmen, die weder zivil noch militärisch
richtig geschult sind. Doch auch die zivile Polizei benutzt häufig brutale Methoden.
Man müsste also allgemein die Polizei reformieren, indem man den militärischen Aspekt
wegnimmt – denn sie sind ja Polizisten, die Zivilisten beschützen sollen, sie respektieren
sollen, ein Bewusstsein um die Menschenrechte haben sollen und um die professionelle
Qualität. Sie dürfen nicht denken, dass man ein Geständnis mit Folter bekommt. Mehr
als neunzig Prozent der Morde in Brasilien werden nicht aufgeklärt. Das heißt also,
dass die Ermittlungen der Zivilpolizei nicht funktionieren. Man muss also eine komplette
Restrukturierung der Polizei machen.“
Sie erwähnten den Drogenhandel, das
in einigen Gegenden herrschende „Klima der Gewalt“, die Korruption und den riskanten
Kampf gegen diese Phänomene. „Wir Geistlichen sind selbst manchmal Opfer“, so Ihre
Formulierung. Welche Rolle kann die katholische Kirche im Kampf gegen Gewalt und für
mehr Gerechtigkeit in Brasilien spielen?
„Wir sind nunmehr seit mehr als
20 Jahren zur Demokratie zurückgekehrt. Deshalb gibt es nicht mehr diese so sichtbare
Rolle der Kirche wie früher während des Kampfes gegen die Diktatur. Die brasilianische
Kirche ist jedoch immer die erste, die am Platz ist als Qualität, an die das Volk
glaubt, als Vertrauen des Volkes, deswegen hat sie eine große Bedeutung. Wenn man
will, dass etwas sich sozial verändert, muss die Kirche mit. Deswegen ist es wichtig,
dass auch die Kirche über diesen historischen Moment nachdenkt, den wir gerade erleben,
diese Suche nach einem politischen Wandel, nach einer Reform des politischen Systems.
Und das betrifft auch gesellschaftliche Probleme wie die Gewalt, die an erster Stelle
steht. Die größte Angst, die die Bevölkerung derzeit hat, ist es, eines gewaltsamen
Todes zu sterben.“
Ihr Bistum erstreckt sich über 170 Quadratkilometer,
das sind besondere pastorale Herausforderungen…
„Unsere Diözese ist groß,
sie umfasst 170 Quadratkilometer mit 450.000 Einwohnern, von denen die Hälfte im Zentrum
der Diözese leben, in Santarém. Wir haben weniger als einen Einwohner pro Quadratkilometer.
Die Herausforderung besteht tatsächlich in den Entfernungen. Wir haben nicht so sehr
das Problem, dass wir einen Priester für viele Gläubige haben, sondern im Gegenteil
einen Priester für viele Quadratkilometer. Vom Sitz in Santarém bis zum entferntesten
Punkt der Diözese braucht man 28 Stunden Bootsfahrt. Zu einer anderen Gemeinde braucht
man vier Stunden im Auto, um 110 Kilometer zurückzulegen, weil die Straße so schlecht
ist. Eine der Schwierigkeiten sind also die Distanzen, deshalb haben wir in den kleinen
Dörfern nur ein oder zwei Mal im Jahr eine Messe. Die einzige Kirche der ganzen Diözese,
wo jeden Tag Messe gefeiert wird, ist unsere Kathedrale.“
Wie sehen Sie
den Papstbesuch in Brasilien – welche Hoffnungen knüpfen Sie daran für die katholische
Kirche und Ihre eigene spezielle Situation?
„Der prophetische Rücktritt
von Benedikt XVI. und die Ankunft von Franziskus hat uns in die Lage versetzt, durchzuatmen
und zu sagen: Wie schön! Alle Themen, über die es fast verboten war zu reden, können
wir nun ansprechen. Zuvor sprach man darüber fast hinter vorgehaltener Hand auf dem
Flur. Ich meine zum Beispiel die Rolle der Frau in der Kirche, die Sexualität, das
Priestertum für Verheiratete. Das sind Dinge, über die man ruhig sprechen könnte.
Heute spricht man ruhiger, aber vorher war das so, als ob man sich daran verbrennen
könnte. Es gab Angst, dass es eine Strafe gibt, wenn man über so etwas spricht, als
ob das ein persönlicher Angriff auf den Papst wäre. Einige schwiegen also aus Respekt,
andere wollten sich nicht die Karriere ruinieren. Wir in Amazonien waren darüber immer
ziemlich beunruhigt, und zwar wegen des ausbleibenden Feedbacks. Zum Beispiel, weil
die Sakramente bei uns im Volk praktisch nicht existieren – wie soll das gehen, wenn
wir nur drei Mal im Jahr mit ihnen Messe feiern? Und wenn man dann in den Dokumenten
schreibt, welche Quelle das christliche Leben haben muss – sind wir dann keine richtigen
Christen? Oder die Beichte – bei unseren Leuten ein, zwei, drei Mal im Leben. Oder
die Krankensalbung, die existiert praktisch nicht, weil wir keine Priester haben.
Wir haben den Vatikan vor ein paar Jahren gefragt, ob das die Laien machen können,
das wurde abgelehnt! Lest die Bibel, sagten sie uns. Das tun wir, aber wir wissen
auch, dass die Presbyter, von denen in der Bibel die Rede ist, vielleicht nicht die
Priester von heute sind. Und die Bibel sagt uns, dass es bei neuen Fragen neue Antworten
gibt – so sind die Diakone entstanden. Und deshalb atmen wir mit der Ankunft von Papst
Franziskus auf. Wir haben auch eine große Hoffnung, denn es ist seine erste internationale
Reise, mit dem Thema Jugend, es ist also kein Besuch für den Staat Brasilien, nein,
es ist ein Besuch für die Jugend der Welt in Brasilien, einem Land, das sehr viele
junge Menschen hat. Das sind Botschaften für die Welt, die von Brasilien ausgehen.
Es gibt also große Begeisterung und eine große Hoffnung.“