Trauer und Mahnung auf Lampedusa: „Sie suchten ein besseres Leben und fanden den Tod“
Die Sündengeschichte der Menschheit von Adam und Kain angefangen zieht sich bis heute,
die anklagende Frage „Wo ist dein Bruder?“ Gottes an Kain ist angesichts des Leidens
der Flüchtlinge auch an uns gestellt. Dieser Gedanke zog sich durch die Predigt Papst
Franziskus’ an diesem Montag in Lampedusa; ein Bericht von Pater Bernd Hagenkord
Um um Vergebung
zu bitten war Papst Franziskus auf die Insel gekommen und um zu trauern. Ein Bußgottesdienst
sollte es sein, den er mit den Menschen der Insel gemeinsam feiern wollte, und genau
so hat der Papst ihn auch gestaltet.
„“Adam, wo bist du?“: Das ist die
erste Frage, die Gott an den Menschen nach dem Sündenfall richtet. „Wo bist du?“ Es
ist ein orientierungsloser Mensch, der seinen Platz in der Schöpfung verloren hat
weil er glaubte, mächtig werden zu können, alles bestimmen zu können, Gott werden
zu können. Die Harmonie war zerrissen, der Mensch hat geirrt und das hat sich dann
auch in den Beziehungen zum Nächsten wiederholt, der nicht mehr der geliebte Bruder
ist, sondern jemand der mein Leben stört, mein Wohlergehen. Und Gott stellt
die zweite Frage: „Kain, wo ist dein Bruder?“ Der Traum vom Mächtig-Sein, vom Groß-Sein
wie Gott, sogar wie Gott selbst zu sein, beginnt eine Kette von Fehlern, die eine
Kette des Todes ist, sie führt dazu, dass das Blut des Bruders vergossen wird! Diese
zwei Fragen Gottes klingen auch heute nach, mit ihrer ganzen Kraft! Viele von uns,
und ich schließe mich selbst da ein, sind desorientiert, wir sind nicht aufmerksam
der Welt gegenüber, in der wir leben, wir sorgen uns nicht, wir kümmern uns nicht
um das, was Gott für alle geschaffen hat und sind nicht mehr fähig, auf den Anderen
Acht zu geben. Und wenn diese Desorientierung globale Dimensionen annimmt, dann kommt
es zu solchen Tragödien, wie der, derer wir heute Zeuge sind.“
Als er die
Nachrichten von den Toten auf dem Meer gehört habe, sei in ihm der Wunsch entstanden,
nach Lampedusa zu kommen, so der Papst. Er wolle ein Zeichen setzen aber auch die
Gewissen aufrütteln.
„“Wo ist dein Bruder?“, die Stimme des vergossenen
Blutes schreit auf zu mir, sagt Gott. Das ist keine Frage, die sich an andere stellt,
das ist eine Frage, die an mich gerichtet ist, an dich, an jeden von uns. Diese unsere
Brüder und Schwestern wollten aus schwierigen Situationen heraus und ein wenig Ruhe
und Frieden finden; sie haben einen besseren Ort für sich und ihre Familien gesucht,
aber sie haben den Tod gefunden. Und wie häufig finden sie kein Verständnis, keine
Aufnahme, keine Solidarität! Und auch ihre Stimmen steigen zu Gott auf!“
Zuerst
wollte Papst Franziskus aber den Bewohnern der Inseln vor Italien auch ein Wort echter
Dankbarkeit und der Ermutigung aussprechen. Er nannte die Vereine, die Freiwillige
und die Sicherheitskräfte, die den Menschen auf ihrer Suche nach einer besseren Welt
beistünden.
„Und nochmals zu euch, liebe Einwohner von Lampedusa, danke
für die Solidarität! Ich habe vor Kurzem einen dieser Brüder gehört. Bevor sie hierher
kamen, waren sie in den Händen von Schleppern, jene die die Armut anderer ausnützen;
es sind Personen, die die Armut anderer zu ihren Gunsten ausnützen. Wie stark hatten
sie gelitten! Einige von ihnen hatten es nicht geschafft, hierher zu kommen!“
Aber
dann ging die Predigt in eine Mahnung über, die Verantwortung für so viele Tote würde
verschleiert, niemand bekenne sich dazu, wir alle – die reichen Staaten und Menschen
– seien zu sehr auf den Schutz des Wohles bedacht, so der Papst.
„Wo ist
das Blut des Bruders, das bis zu mir schreit?“ Heute fühlt sich auf der Welt keiner
verantwortlich dafür; wir haben den Sinn für die geschwisterliche Verantwortung verloren;
wir sind in das heuchlerische Verhalten des Priesters und Altardieners verfallen,
von denen Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter spricht: Wir sehen den halbtoten
Bruder am Straßenrand und denken vielleicht „der Arme!“, und gehen weiter unseres
Weges, weil es nicht unsere Aufgabe ist; und wir glauben, dass alles in Ordnung sei.
Wir fühlen uns zufrieden, als ob alles in Ordnung sei! Die Kultur des Wohlergehens,
die uns an uns selber denken lässt, macht uns unsensibel für die Schreie der anderen,
sie lässt uns in Seifenblasen leben die zwar schön sind, aber nichtig, die eine Illusion
des Unbedeutenden sind, des Provisorischen, die zur Gleichgültigkeit dem Nächsten
gegenüber führt und darüber hinaus zur einer weltweiten Gleichgültigkeit! Von dieser
globalisierten Welt sind wir in die globalisierte Gleichgültigkeit gefallen! Wir haben
uns an das Leiden des Nächsten gewöhnt, es geht uns nichts an, es interessiert uns
nicht, es ist nicht unsere Angelegenheit!“
Der Papst blieb aber nicht bei
seiner Mahnung; anschließend an das Werfen des Trauerkranzes ins Meer brachte er noch
eine weitere Dimension ins Bewusstsein, die über die beiden Fragen Gottes an Adam
und an Kain hinaus geht.
„Ich möchte, dass eine dritte Frage gestellt wird:
„Wer hat über das alles und über Dinge wie diese geweint?“, über den Tod von unseren
Brüdern und Schwestern? Wer hat über die Menschen geweint, die in den Booten waren?
Über die jungen Mütter, die ihre Kinder trugen? Über die Männer, die etwas zum Unterhalt
ihrer Familien suchten? Wir leben in einer Gesellschaft, die die Erfahrung des Weinens
vergessen hat, des „Mit-Leidens“: Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns
die Fähigkeit zum Weinen genommen!“
Mahnung und Trauer, das solle uns Menschen
verändern. Die Mahnungen gingen an die Verantwortlichen und an die, die ihre Verantwortung
nicht sehen wollen.
„Herr, in diesem Gottesdienst, der ein Bußgottesdienst
ist, bitten wir um Verzeihung für die Gleichgültigkeit so vielen Brüdern und Schwestern
gegenüber, wir bitten um Verzeihung für die, die es sich bequem gemacht haben, die
sich im eigenen Wohl eingeschlossen haben und das Herz betäubt haben, wir bitten dich
um Verzeihung für diejenigen, die mit ihren Entscheidungen auf höchster Ebene Situationen
wie dieses Drama hier geschaffen haben. Herr, verzeihe uns! Herr, auch heute noch
hören wir deine Frage: „Adam, wo bist du?“, „Wo ist dein Bruder?“ Amen.”