Christoph
Ransmayr, Atlas eines ängstlichen Mannes, Fischer Verlag
„Ich
sah“: Diese Worte verbinden in der „Offenbarung des Johannes“ die großen Visionen
der Endzeit untereinander. „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Auch Christoph
Ransmayrs siebzig Reise-Miniaturen beginnen jedesmal mit einem solchen „Ich sah“,
das stimmt sie von Anfang an auf einen visionären Ton. „Ich sah einen Losverkäufer
in einer sonntäglich leeren Straße der chilenischen Pazifikstadt Valparaiso... Ich
sah eine schwarze Ziege am Rand eines von Schilfgras überwucherten Tennisplatzes in
Adamstown, der einzigen Siedlung der Südseeinsel Pitcairn... Ich sah eine Plakatwand
an der unter Luftspiegelungen verschwimmenden Straße nach Klipplaat am Rand der südafrikanischen
Suurberge... Ich sah einen Strom von Aberhunderten Silberlachsen... Ich sah eine samtschwarze,
von unzähligen Lichtpunkten tätowierte Finsternis über mir, ein scheinbar grenzenloses,
bis an die fernsten Abgründe des Alls ausgespanntes Firmament, während ich auf dem
flachen Boden eines Kahns lag, der unter den Ruderschlägen eines Fährmanns aus dem
Volk der Maori durch die Nacht glitt.“
Wie einst der Autor der Apokalypse
zeigt uns auch Ransmayr eine „neue Erde“, genauer, er sieht die Erde auf neue Weise
und den Himmel auch, er läßt uns die Welt mit anderen Augen sehen, indem er dichte
oder flüchtige Beobachtungen aus über vierzig Reisejahren wiedergibt. Manches davon
ist von einer Poesie, die im Gedächtnis bleibt, etwa die Begegnung mit dem Waliser,
der die chinesische Mauer von Anfang bis Ende abläuft und die Stimmen der Singvögel
dort aufzeichnet. „Gemeinsam hatten sie (seine chinesische Frau und er) sich vorgestellt,
diese unvostellbar lange Mauer durch einen einzigen, aus lückenlos aneinandergereihten
Reviergesängen bestehenden Chor zu ersetzen: einen Wall aus Liedern, zart und glasrein
die einen, verspielt, trällernd die anderen, alle aber Sequenzen einer unüberhörbaren,
unüberwindlichen Melodie, die jeden Eindringling oder Angreifer entweder so überwältigen
musste, dass er bang das Weite suchte – oder so betörte, dass er seine Gier, seinen
Haß oder seine Kampflust vergaß und zu nichts anderem mehr fähig war, als hingerissen
zu lauschen.“ Eine Mauer aus Klang.
Immer wieder rühren Ransmayrs Bilder an
die großen Fragen von Leben und Tod. In Brasilien beobachtet er, wie ein Emigrant
in einem Garten beigesetzt wird, während Araukariensamen von einem Baum auf die Trauernden
herabregnen – Samen, von denen jeder einzelne „die Möglichkeit eines tausendjährigen
Baumlebens enthielt“. An einem Strand im Regenwald belauscht er einen alten Mann,
der für Angehörige betet, indem er ihre Namen in Richtung Meer schreit. Auf einem
Parkplatz in den USA sammeln Menschen in einer Nacht der Mondfinsternis die Bruchstücke
eines zersprungenen Glases auf, „blinkende Scherben, als pflückten sie Sterne“; auf
einer Bank an einer Bushaltestelle irgendwo in Oberösterreich stirbt ein Rentner,
ohne dass die Vorübergehenden es bemerken; in der (damaligen) Tschecheslowakei trifft
der Autor in der Einöde auf einen Lehrer, der einen verfallenen jüdischen Friedhof
hegt und die hebräischen Inschriften entziffert. „Er baute unbeirrt weiter an seiner
Mauer und hörte manchmal nur noch die vielen Stimmen, die sich in ihrem Schutz erhoben.“
Ransmayr
begleitet Fischer in Sri Lanka, die nach einem Tsunami alles verloren haben, auf einer
nächtlichen Wallfahrt: „Menschen vier verschiedener Religionen erstiegen diesen Berg,
um dankbar oder verzweifelt zu ihren Göttern zu beten..., Buddhisten, Hindus, Moslems
und Christen erzählten über ihn so viele verschiedene, oft widersprüchliche Legenden,
doch keiner wollte den Sri Pada für sich und seinen Glauben allein.“ Er mischt sich
unter psychisch Kranke, die vor einer Kapelle in Wien Marienlieder singen: „Den Blick
in das von zwei Ampeln nur schwach erhellte, golden schimmernde Kirchenschiff gerichtet,
knieten oder standen die Betenden vor den versperrten Toren und umklammerten die Gitterstäbe,
als ob die abendliche Weite in ihrem Rücken, die träge ziehenden Wolken, ja die ganze
Stadt, die, aus der Höhe des Kirchenportals betrachtet, in einer blaugrauen Tiefe
lag – Regionen einer vergitterten Welt wären und das verschlossene Halbdunkel, in
das sie ihre Gebete, Lieder und Litaneinen murmelten und sangen, die Freiheit, ein
kostbar funkelnder, unendlicher Raum.“
Der Österreicher Christoph Ransmayr
ist einer der größten lebenden Schriftsteller deutscher Sprache – ein Reisender, der
uns mit zurückhaltend-durchdachter Sprache die Tore zu neuen Welten aufstößt. Hier
nimmt er Mass am letzten Buch der Bibel. Eines der schönsten Bücher dieser Jahre,
ein Weltatlas, der uns, Breitengrad um Breitengrad, ins Unbekannte führt und zu uns
selber.