„Es hemmt ein wenig die Feiertagslaune“: Lutherbiograph Heinz Schilling über Feiern
und Gedenken
2017: Die Reformation
Martin Luthers jährt sich zum 500. Mal. Was das nun ökumenisch bedeutet, ob man feiert
oder gedenkt, wie die evangelischen Kirchen mit ihrer Luther-Dekade diesen Anlass
würdigen können und sollen, das wird seit Jahren diskutiert. Vor einiger Zeit ist
eine Biographie des Reformators Martin Luther erschienen, die sich durchaus ganz bewusst
in diese Diskussion einmischen will, mit Vehemenz und Leidenschaft. Heinz Schilling,
emeritierter Professor für Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität
zu Berlin und Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Lutherdekade, will mit
seinen biographischen Studien dazu beitragen, Geröll des Lutherverständnisses abzutragen.
Unser Thema heute: Reden über Gott und Welt.
Geröll eines Lutherbildes
„Luther hat sehr bald, unterstützt von einem ganzen Kreis von Mitarbeitern, an einem
Lutherbild gearbeitet, das nicht immer den historischen Entwicklungen entsprach. Nach
seinem Tod sind diese Züge natürlich durch die Lutherrezeption verstärkt worden. Eins
scheint mir ganz wichtig zu sein, auch mit Blick auf 2017, und es wäre wichtig, wenn
die Verantwortlichen in der katholischen Kirche das realisieren würden und auch aufgreifen
würden: Die Konfessionelle Zuspitzung kommt eigentlich erst im konfessionellen Zeitalter.
Und dann werden die Auseinandersetzungen und Positionen auch – und ich wage diesen
modernistischen Begriff – geradezu fundamentalistisch. Vielleicht sollte man in den
Diskussionen um die Bedeutung der Reformation in den nächsten Jahren generell anstreben,
dieses angesammelte Geröll zu durchdringen und über die konfessionellen Zuspitzungen
zurückstoßen in die eigentliche Zeit und analysieren, wie sich alles entwickelt hat.
Wo waren damals schon Missverständnisse? Was hätte man vermeiden können durch ein
klügeres Vorgehen auf beiden Seiten?“
Dazu muss aber – wie Schilling mit
einer gewissen Vehemenz betont – das Geröll weg, das Geröll des 19. Jahrhunderts und
seiner Lutherverklärung und das Geröll einer übertriebenen Betonung der Verschiedenheit
und des Konfliktes. Das Ganze ist bei Schilling aber kein rein akademisches Unterfangen:
„Wenn
da eine gewisse Vehemenz hinein kommt, dann hängt das mit zwei Dingen zusammen: Zum
Einen bin ich Protestant, aber eben aus Köln stammend und in einem katholischen Umfeld
groß geworden. Das heißt, dass ich vieles erlebt habe, wo man sensibilisiert wurde
für die Unterschiede und auch sensibilisiert wurde für die Möglichkeiten des im Rheinland
teilweise auch vorhandenen augenzwinkernden Miteinanders. Vor Monsignori habe ich
keine Angst, die gehören zum Alltag. Das ist am Rhein eine völlig andere Welt des
Alltäglichen, jedenfalls in meiner Jugend vor nun mehr als 50 Jahren. Das alltägliche
Zusammenleben und das Verstehen über die Konfessionsgrenzen hinweg: Diese Linie weiter
zu führen und wissenschaftlich zu reflektieren, durchaus mit Blick auf ein ähnliches
Zusammenlebens in der Zukunft, das war das eine.“
Ein uns fremder
Luther
Das andere: Die Einsicht, dass wir nicht einfach in die Zeit
Luthers hineinspringen können. Er ist nicht „unser Luther“, sondern grundsätzlich
erst einmal fremd. Das gilt durch die Jahrhunderte hindurch und auch für die verschiedenen
Jahrhundertfeiern, die immer wieder diese Fremdheit zu überspringen versucht hätten.
„Nehmen
wir nur eine Jahrhundertfeier, die von 1917: Wir fühlen uns heute natürlich so unendlich
erhaben. ‚Nein das kann uns doch nicht passieren, diesen nationalistischen Luther
wieder hervor zu holen!’ Ja, aber man muss aber anders denken: Das waren die Gegenwartsprobleme
Anfang des 20. Jahrhunderts. Wir müssen – und da ist durchaus eine gewisse Leidenschaft
in meiner Position – darauf achten, dass wir nicht wieder die eigenen Gegenwartsprobleme
auf Luther projizieren und dann nur das zurück bekommen, was wir sowieso wollen und
was wir sowieso wissen. Das ist mein Ceterum censeo, dass dieses nicht sein darf.
Wir sagen, dass wir den nationalistischen Luther heute nicht machen, aber auch den
libertinen Luther, der uns vielleicht heute sehr gut passt, sollten wir nicht machen,
das wäre dasselbe, was die Generation Anfang des 20. Jahrhunderts als den ihren, den
nationalistischen Luther, gefeiert hat.“
Ganz banal könnte man also vielleicht
formulieren: Damals war alles anders. Aber ganz so banal ist diese Aussage nicht.
Zu schnell identifizieren wir uns heute mit vergangenen Zeiten, machen Geschichte
zum Schauspiel oder zur Bühne, die unsere Welt heute abbildet, aber nicht den historischen
Realitäten nahe kommt. Schilling betont, dass es für uns heute nicht einfach ist,
die Vergangenheit zu verstehen, dass es eine grundsätzliche Andersheit gibt und geben
muss.
„Das ist ein weiterer Punkt, auf dem der Historiker nun mal beharren
muss. Wenn Geschichte Sinn hat und auch übrigens einen pädagogischen und erzieherischen
Sinn, dann auch zu wissen, dass es Zeiten gab, die anders strukturell aufgebaut waren,
wo die Menschen anders dachten als wir heute, und die wir dann dementsprechend analysieren
und verstehen müssen in ihrer Zeit. Lehren – wenn man überhaupt Lehren aus
der Geschichte ziehen kann – kann man für die Gegenwart nur ziehen, wenn man die Menschen
und ihre Probleme in ihrer eigenen Gegenwart analysiert. Das hat auch eine enorm befreiende
Wirkung, insofern wir heute erleben und erfahren, dass das, was die Menschen heute
bekümmert, veränderbar ist. Durch den Spiegel wird deutlich, dass die Welt wandelbar
ist und sich verändert.“
Was denn nun feiern?
Schilling
spricht davon, dass Luther eine eigene Kirche nicht gewollt habe, er wollte Reform.
Deswegen bezeichnet er das Entstehen der Kirchen der Reformation auch als ein Scheitern
Luthers.
„Da muss ich ganz offen bekennen: Diese Position hat sehr früh
aus meinem Freundeskreis der evangelisch-theologischen Professorenschaft Widerspruch
erfahren, anfangs sogar Entsetzen hervor gerufen. Ich glaube aber nicht, dass das
ein Problem sein sollte. Es hemmt vielleicht ein wenig die Feiertagslaune für 2017,
aber das wäre auch nicht so ganz schade.“
Da müssen wir aber noch mal nachfragen:
Wenn es mit Scheitern zu tun hat, was feiert die lutherische Kirche dann 2017?
„Feiern
kann sie diese Selbstbehauptung und das ist ja auch das Bewundernswerte an Luther:
So viele dunkle Seiten er hat und so häufig ich mich mit der Biographie gequält habe;
es ist ein zu bewundernder Mann, wie er sich behauptet hat und wie er den Anfechtungen
von beiden Seiten – sowohl die der Schmeichler als auch der ihm in bitterer Feindschaft
entgegentretenden – zum Trotz sich behauptet hat. Es gibt einen Erfolg des
Weges, der eingeschritten wird, nachdem erkannt worden ist, dass die eigene Hauptrichtung
nicht in diesem Moment zum Erfolg führen kann. Warum das nun in irgend einer Weise
die Existenz der lutherischen Kirche beschädigen soll, sehe ich nicht ein. Luther
hatte vor, die Kirche insgesamt zu reformieren, da ist überhaupt keine Frage. Ich
gehe darüber hinaus: Er wollte die Christenheit insgesamt, ja die Menschheit insgesamt
wollte er auf den richtigen Weg führen. Und das ist eine Absolutheitsposition, die
aus der Zeit heraus zu verstehen ist und die auch nicht zu verurteilen ist, weil die
Zeit eben so konstruiert war. Nun sah er – und historisch ist das ja auch offensichtlich
– dass das in seiner Zeit nicht durchgesetzt werden konnte.“
Scheitern
und Erfolg
„Diesen Weg ist er gegangen, diesen Weg sind seine Nachfolger
gegangen, dieser Weg war erfolgreich, und das ist einerseits das Ergebnis seines Scheiterns
bei der Reform der allgemeinen Kirche und bei der Reform der Menschheit insgesamt,
aber andererseits das Ergebnis des Erfolges in einer Differenzierung der Christenheit
und der Kirche.“
Und diese Differenzierung, so eine These Schillings, bereitet
der Differenzierung Europas, der Modernität, den Weg.
Zum Schluss kommen wir
noch einmal zurück zur Frage des gemeinsamen Gedenkens oder Feierns und zur Frage
der Ökumene: Der Historiker Schilling wird noch einmal engagiert. Seine Biographie
will eben auch beitragen zu einem heutigen Verstehen Luthers und der Reformation mit
dem Zweck eines besseren Verstehens heute.
„Vielleicht – und das wäre natürlich
mein Wunsch – führt ein reflektierter Umgang von beiden Seiten mit dem unserer Generationen
gegebenen Datum ja dazu. Da kommt auch eine gewisse Emphase und Leidenschaft von mir
herein: 500 Jahre, das ist ja nun mal was. Wir bekommen nicht jedes Jahr die Möglichkeit,
dieses Problem so zu analysieren, wie bei einem 500jährigen Gedächtnis. Da appelliere
ich an alle Seiten – auch die Politiker sind da mit gemeint – diese Chance nicht zu
vertun durch irgendeine billige Performance von Seiten meiner Kirche, sondern es wie
Luther tun, was ich ja in meinem Buch als eine seiner Charaktereigenschaften dargestellt
habe. Durch das Bohren dicker Bretter ist er weiter gekommen und hat sich behauptet
und hat die nach seinen theologischen Prinzipien funktionierende Kirche aufgebaut.
So sollte man die nächsten Jahre nutzen. Ich finde, dass schon Chancen vertan
worden sind. In gewisser Weise ist mein Buch auch ein aufrüttelnder Appell. Wir sollten
die Chancen auf beiden Seiten nutzen, nicht allgemein ins Gespräch zu kommen, sondern
zu dieser archäologischen Tiefenbohrung zu kommen. Was 1517 und später genau geschehen
ist und wo Dinge sind, die uns heute eigentlich nicht mehr berühren und wo andere
sind, wo Missverständnisse der Zeit oder auch Zwänge der Zeit zu bestimmten Entwicklungen
geführt haben, die wir heute vielleicht als nicht mehr so trennend erleben.“
Das
Buch ‚Martin Luther – Rebell in einer Zeit des Umbruchs’ ist im C.H. Beck Verlag erschienen
und kostet etwa 30 €.