Angelika
Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang. Rezensiert
durch Stefan v. Kempis.
Der Koran, das heilige Buch des Islam,
ist nicht unvermittelt vom Himmel gefallen: Er entstand in einem Prozess, der sich
in den Suren selbst ablesen lässt, einem Prozess allmählicher Gemeindebildung in Mekka
und Medina. Und trotz ihres Anspruchs auf göttliche Inspiration traten die Suren von
Anfang an in ein Gespräch mit anderen großen Texten der Antike – das zeigt eindringlich
das Projekt „Corpus Coranicum“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften,
bei dem Islamwissenschaftler unter Leitung von Angelika Neuwirth derzeit systematisch
Texte aus dem Vor- und Umfeld des Koran ins Internet stellen. Eine ganze Welt taucht
da wieder auf, von der bisher nur wenige Fachleute wussten.
Neuwirth geht es
nun darum, den Koran durch eine „europäische Brille“ zu lesen: als Schriftwerk einer
religiösen Gruppe der Spätantike, die sich vielfach auf biblische Texte des Alten
und Neuen Testaments bezieht, sie betend rezitiert und an ihnen Maß nimmt. Damit gehört
dieses Schriftwerk ebenso wie etwa die Kirchenväter zum geistigen Erbe des Abendlandes:
Das ist eine Heimholung des Koran in unsere eigene Tradition, viel mehr als nur ein
Wulffsches „Der Islam gehört (irgendwie auch) zu Deutschland“. „Der Koran“, so zeigt
Neuwirth, „entsteht etwa zeitgleich mit Teilen des Talmud und wichtiger patristischer
Literatur. Zusammen mit den – gemeinhin als europäisches Erbe reklamierten – Schriften
der spätantiken Rhetoriker, Kirchenväter und Rabbinen gelesen, ist er eigentlich ein
uns vertrauter Text – oder er wäre es, trennten ihn nicht mentale Grenzziehungen von
unserer unvoreingenommenen Wahrnehmung.“
Besonders charakteristisch für Neuwirths
Buch „Der Koran als Text der Spätantike“, das im Verlag der Weltreligionen erschien,
ist seine „ungewöhnliche Perspektive“ (Stefan Weidner im DLF): Die Autorin konzentriert
sich nämlich auf den Korantext im Prozess seines Entstehens selbst und blendet die
späteren Exegesen und Kommentare aus. Sie verweigert sich auch der „Eintragung von
äußeren Lebensdaten“ Mohammeds „in den Surentext“ und lauscht stattdessen den „polyphonen
Texten, in denen gleichgesinnte Hörer wie auch Gegner des Verkünders zum Sprechen
kommen“. Der Koran, ein „work in progress“ – nicht nach dem fertig zusammengestellten
Buch wird gefragt und nicht nach dem Propheten (an dessen Historizität Neuwirth im
Übrigen nicht zweifelt), sondern nach der Gemeinde, in der diese Suren entstanden.
Akribisch macht Neuwirth plausibel, mit welchem Ernst Mohammed und sein Kreis auf
biblische Traditionen eingehen, sie sich zu eigen machen, teilweise auch umformen.
Neuwirth legt als erstes im Korantext selbst mehrere Modelle frei, die beschreiben,
auf welche Weise das Wort Gottes zu Mohammed und zur Gemeinde gekommen ist. Da ist
zum einen die „Herabsendung“ des Wortes, die gleich an das christliche Bekenntnis
vom Herabkommen des Gottessohns erinnert und daran, dass „das Wort Mensch wurde“,
wie der berühmte Prolog des Johannes-Evangeliums formuliert. Da ist zum anderen die
„Eingebung“: Mohammed formuliert eine dynamische Gottesschau, die sich überraschend
deutlich auf Jesajas Berufungsgeschichte stützt, aber im Wortsinn viel bewegender
gefasst ist. Allerdings: Von derartigen Visionen ist in frühen Suren überhaupt nur
dreimal die Rede, und in den Korantexten selbst vermag Neuwirth keinerlei Hinweise
auf eine „ekstatische Disposition des Verkünders“ zu erkennen – „viel undramatischer“,
aber offenbar gängiger im frühen Islam ist offenbar, dass „neue Texte aus nächtlich
rezitierten, bereits in Gebrauch befindlichen“, oft biblischen „Texten gleichsam herauswachsen“.
Eine atemberaubende Entdeckung zur Entstehung des Koran: Wir sehen Mohammed bei nächtlichen
Vigilien „mit großer Konzentration“ Psalmen „oder psalmistisch geprägte liturgische
Gesänge“ rezitieren, wie ein Mönch beim Stundengebet. Der Hinweise darauf sind viele:
Immer wieder greifen Suren direkt Psalmenformulierungen auf, der Koran ist – wer hätte
das gedacht! – „auf weite Strecken Psalmenparaphrase“. Daraus ergibt sich unmittelbar
die Schlussfolgerung, dass er „Teil der spätantiken Psalmenfrömmigkeit“ ist. Allerdings
sind die frühen Suren mehr als „eine Replik der Psalmen“, und zwar wegen ihrer eschatologischen
„Stoßrichtung“.
Zunächst sind die ersten Korantexte aus Mekka „noch wenig
an einer Selbstdefinition interessiert, selbst das Wort qur`an meint zu Anfang eher
den Prozess der Rezitation als den Text selbst“. Doch es ist in dieser Rezitation
selbst, dass sich für die frühe islamische Gemeinde das Gotteswort manifestiert. „Nicht
ein Buch steht“ also für Muslime „als Verkörperung des Gotteswortes an der Stelle
der (christlichen) Inkarnation, sondern eine sinnlich wahrnehmbare akustisch-sprachliche
Manifestation tritt, wie sich bereits aus dem Koran selbst erschließen lässt, an diese
Stelle.“ Der Koran, „vor allem ein akustisches Erlebnis“, „Produkt eines Zeitalters
der Rhetorik“: Gottesoffenbarung im Rezitiervorgang. Dass der absolut transzendente
Gott sich in der Sprache als erfahrbar erweist, erinnert Neuwirth an den Kirchenvater
Ephraim den Syrer, der im vierten Jahrhundert eine „Theologie der Namen“ entwickelte.
Durch sie „zog sich Gott menschliche Sprache an, um so erkennbar zu sein.“ Eine Aussage,
die sich „ohne Abstriche auf den Koran übertragen“ ließe. Hier, und nicht nur hier,
legt die Autorin eine Piste für die weitere Forschung.
Halten wir fest: Von
Anfang an zeigt der Koran „eine Annäherung an die Gebetspraxis der beiden älteren
Religionen“. Auch in mittel- und spätmekkanischer Zeit lehnt sich das Denken, Reden
und Beten in Mohammeds Gemeinde eng an biblische und nachbiblische Traditionen an,
wie Neuwirth zeigt. Die Gemeinde beginnt sich als „neues Gottesvolk“ zu deuten – und
reklamiert damit einen Anteil „an der monotheistischen Heilsgeschichte“. Das ursprünglich
nicht zu den Suren zählende Eröffnungsgebet, die „Fatiha“ (von vielen als ein islamisches
Vaterunser interpretiert), sieht Neuwirth parallel zu „jüdisch-christlichen Gottesdienstanfängen“,
und den Aufbau der Suren aus dieser Epoche liest sie als Analogie zum christlichen
Wortgottesdienst. Das bedeutet: Das Modell der nächtlichen Vigilien, auf denen stundengebetartig
Psalmen rezitiert und neue Texte aus ihnen sozusagen „herausgebetet werden“, wird
jetzt abgelöst von einem eigenen Gottesdienst – mit Anklängen an das byzantinische
Gotteslob und an das Kyrie sowie mit einem richtiggehenden Wortgottesdienst, in dem
jüdische und christliche Traditionen verhandelt werden.
„Die zeitweise einen
jüdisch/christlichen Gottesdienst abbildende Surenstruktur, d.h. das zeitweise entsprechend
diesen Gottesdiensten gestaltete kultische Ritual, dürfte der lebendigen Erfahrung
mit solchen Gottesdiensten, nicht dem bloßen Hörensagen von ihnen, verdankt sein.“
Schon die frühe islamische Gemeinde in Mekka kennt gut, so erfahren wir, das jüdische
Credo, das Vaterunser und Texte aus christlichen Gottesdiensten. Die Suren sind von
ihrem Wesen her sozusagen ein interreligiöser Dialog. Und ihre „beherrschende Grundhaltung“
ist eine, „die in den biblischen Büchern noch nicht denkbar wäre“, nämlich „das exegetische
Interesse“. Wenn das – und die tiefe Psalmenfrömmigkeit der frühen islamischen Gemeinde
– keine Anknüpfungspunkte für den heutigen Dia- bzw. Trialog der monotheistischen
Traditionen sind!
Mit Entschiedenheit wirbt Angelika Neuwirth dafür, den Koran
endlich „auf Augenhöhe“ zur Bibel zu sehen. Sie weiß natürlich um die „Unähnlichkeit“
der Text-Corpora (auch wenn im Koran viele literarische Formen vorkommen, die wir
von der Bibel kennen), weiß um den liturgischen und exegetischen Charakter des Koran.
Dennoch tritt sie dafür ein, dass nicht nur einzelne Suren mit einzelnen Bibelpassagen
verglichen werden, sondern dass die Forscher endlich Bibel und Koran in toto nebeneinanderstellen.
Erst dann kommt, so argumentiert sie, überhaupt in den Blick, dass die Suren keinen
Rückschritt in eine archaische Zeit vor der Bibel bedeuten, sondern vielmehr ihre
Fortschreibung, ihre Weiterentwicklung.
Mit ihrem Buch über den Koran kommt
Neuwirth auf überraschende und bewegende Weise „jenem Gespräch auf die Spur, aus dem
der Korantext, so wie wir ihn haben, hervorgegangen ist“. Aus dem Text selbst, ohne
Ballast, Deutungen und Verzeichnungen durch islamische wie westliche Deuter, schält
sich das Bild einer gottsuchenden Gemeinde im siebten Jahrhundert heraus, die im lebhaften
Dialog mit Juden und Christen steht, die deren Traditionen auslegt und sie sich in
einem dynamischen Gesprächs- und Gebetsprozess anverwandelt.
Neuwirths Buch
lässt Großes vom „Corpus Coranicum“ erwarten: Hier wird eine neue Richtung in der
Islamforschung aufgezeigt. Das hat das Potential, weit in die islamische Welt hinein
auszustrahlen. Und auch der Westen kann sich den Koran viel mehr als bisher „zu eigen
machen“: als einen Text, der sich in seine ureigene Denktradition einordnen lässt.